Schriesheim im Bild 2023

23.09.2003

Öchslewaagen

In Schriesheim hat die Weinlese gestern mit voller Wucht begonnen - Müller-Thurgau mit 100 Grad Öchsle im Schnitt.
Von Roland Kern

Schriesheim. Schwindel erregende Mostgewichte, gewaltige Mengen von Trauben, ein Bilderbuchwetter - in Schriesheim hat die Weinlese gestern mit voller Wucht eingeschlagen.

"Kirschenlohr 105", stand gestern Abend um halb acht Uhr unscheinbar mit Kreide auf eine grüne Metallwand geschrieben. Jener Herr mit dem fruchtigen Namen war gestern der Öchslekönig am Schriesheimer Leseauftakt der Winzergenossenschaft. Aber andere waren ihm dicht auf den Fersen. Die für die schlichte Müller-Thurgau-Traube so sensatinelle 100er-Marke wurde vielfach überboten.

Morgens um halb zehn Uhr standen, eigentlich wie jedes Jahr, die Mildenbergr-Brüder vor den Toren des Kelterhauses. Fritz, Heinz und Ludwig sind nicht nur als Frühaufsteher bekannt, sondern auch wegen der sorgfältigen Pflege, die sie ihren Weinbergen angedeihen lassen. Schon die Mildenberger-Beeren bringen mehr als 100 Öchsle auf die Waage. Schon kurze Zeit später wurde klar, dass diese Werte keine Ausnahme sein werden.

Mittags gegen zwölf Uhr blättert Genossenschafts-Geschäftsführer Harald Weiss die Lieferscheine durch. Er schüttelt ungläubig den Kopf. "Kein einziger unter 90 Grad", schwelgt er lächelnd, "das sind im Schnitt 20 Grad mehr als sonst". Auf dem Papier haben Schriesheims Weinbauern gestern fast nur Spätlesen geerntet. In der Praxis wird es aber schwierig, so viele hochwertige Weine zu vermarkten - gerade beim Müller-Thurgau, den viele gerne als leichten Tafelwein süffeln. "Der Verbraucher profitieren davon", erklärt Weiss. Klar: Der Winzerkeller wird manchen Tropfen "abstufen" müssen. Manche stolze Spätlese wird dann eben doch mit der Bezeichnung "Qualitätswein b.A." in die Literflasche wandern und sich unter Wert verkaufen. Aber kennt der Müller-Thurgau dieses Los nicht schon lange?

Für die Schriesheimer Winzer war es gestern jedenfalls ein Lesebeginn nach Maß. Und sie erledigten ganze Arbeit. Rund 130 Tonnen Trauben sind bis heute nacht gekeltert und zum großen Teil schon in Richtung Breisach geschaukelt worden. Das ist fast die Hälfte des Müller-Thurgau-Bestandes.

"Die Winzer waren ganz kribbelig", hat Weiss beobachtet - und volles Verständnis dafür. Denn laut "Refraktometer", wie die Öchslewaage heißt, waren die Trauben schon eine ganze Weile zur Ernte bereit. Und immer wieder mahnte der Vorstand zum Abwarten. Deshalb kam der Lesestart gestern für viele wie eine Erlösung. Bis heute nacht liefen die im letzten Jahr neu angeschafften Kelterpressen auf Hochtouren, im Schichtbetrieb bedienten zwei Teams die High-Tech-Maschinen, die so aussehen, als könnte man damit auch zum Mond fliegen (wenn man weiß, was man auf dem Mond will, wo doch dort nachweislich kein Wein wächst).

Aber die Keltermannschaften waren trotz des Riesenandrangs so gut in Form, dass eigentlich zu keiner Zeit Stress aufkam. Auch nicht gestern Abend, als sich noch gegen neun Uhr immer wieder neue Fahrzeuge anreihten. Diese bunt getupferte Warteschlange ist immer wieder ein Anblick für die Götter. Da steht der nagelneue 50 000-Euro Schlepper neben der Oldtimer-Agrila oder dem Kombi,der auf einem kleinen Anhänger einen Trauben-Bottich hinter sich herzieht. Vor Bacchus und Harald Weiss sind alle Winzer gleich.

Heute, wenn es trocken bleibt, ist nochmal ein "Müller-Tag", allerdings werden auch schon erste Riesling-Trauben angenommen (allerdings nur mit Botrytis-Befall). Und Mitte der Woche kommen schon die ersten Roten dran. "Wir sind so flexibel wie jedes andere Weingut auch", verspricht der Geschäftsführer.

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Autor: Rhein-Neckar-Zeitung