Schriesheim im Bild 2023

24.12.2003

"Unser Auftrag ist es, den Kindern die Liebe zu bringen"

Die aus Schriesheim stammende Krankenschwester und Theologin Anouschka Putschky berichtet für die RNZ über ihre Arbeit für Straßenkinder in den Elendsvierteln von La Paz
In eine ungewisse Zukunft blicken die Kinder aus den Armenvierteln der bolivianischen Großstadt La Paz. Die in Schriesheim geborene Krankenschwester und Theologin Anouschka Putschky leitet mit ihrem Mann ein Soforthilfe-Zentrum für diese Kinder. Auf dieser Sonderseite berichtet sie über ihre Arbeit. Foto: Hinsche

Von Anouschka Putschky

La Paz im März 2002: Eine Frau wirft ihren Müll in den Müllcontainer am Straßenrand. Dort findet sie ganz zufällig zwischen dem Müll ein etwa zwei Jahre Kind, das leise weint und zu ersticken droht. Von der Polizei wird es ins Krankenhaus gebracht, wo der Arzt folgendes diagnostiziert: Der kleine Junge hat multiple Frakturen, Prellungen und Narben am ganzen Körper von vorherigen Mißhandlungen. Auch ist er sexuell missbraucht worden. Über das Fernsehen werden die Eltern des Kindes gesucht, aber niemand meldet sich. zwei Tage später stirbt es.

Am Stadtrand der Metropole La Paz, in einem kleinen, gemieteten Zimmer wohnt der 7-jährige Luis zusammen mit seinen Eltern und fünf Geschwistern. Jeden Morgen schickt ihn sein Vater auf die Straße mit dem "Auftrag", abends Geld nach Hause zu bringen. Kommt der kleine Luis dann nur mit wenigen Münzen zurück, wird er von seinem meist betrunkenen Vater verprügelt. Auf der Straße freundet sich Luis bald schon mit Straßenkindern an, die ihm nicht nur das Überleben auf der Straße sondern auch das Schnüffeln von Klebstoff beibringen. Inzwischen geht Luis nicht mehr nach Hause: er zieht es vor, mit seinen Freunden unter einer Brücke zu schlafen. Dies ist der Beginn seiner "Karriere" als Straßenjunge.

Urinlappen auf die Prellungen . . .

Schicksale wie diese sind in der Zwei-Millionenstadt La Paz an der Tagesordnung.

Überall gibt es Armut, Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Drogen, zerrüttete Familien, Kinderarbeit, Misshandlungen und sexuellen Missbrauch. Viele Kinder und Teenager ziehen es vor, auf die Straße zu gehen, um ihr Leben selbst zu meistern - ohne Schläge und Misshandlung und sexuellen Missbrauch, vor allem durch die Stiefväter. Auf der Straße helfen die Drogen, ihre Probleme und die Kälte zu vergessen. Selbst die kleinsten Straßenkinder schnüffeln den so genannten "vuelo", ein Gemisch aus Klebstoff, Farbverdünner und Benzin. Bald kommt dann Alkohol, Marihuana und Kokain dazu. Und die Kriminalität ist oft der einzige Weg, um etwas Geld zu verdienen. Auf der Suche, den Problemen ihrer Kindheit zu entfliehen, finden diese Kinder und Jugendlichen letztendlich wiederum Schläge, Misshandlung, Vergewaltigung und Unverständnis, werden gehasst und ausgenutzt.

Unser Auftrag ist es, diesen zutiefst verletzten, von Hass und Mißtrauen erfüllten Jungs und Mädchen Gottes Liebe zu bringen und ihnen zu besseren Lebensbedingungen zu verhelfen.

Ein Drogenabhängiger glaubt grundsätzlich nichts von dem, was man ihm sagt. So können von unseren ersten Kontakten mit Drogenabhängigen auf der Straße bis zu ihrer Bereitschaft, in eine Rehabilitation einzuwilligen, mehrere Jahre vergehen.

Zusammen mit unseren bolivianischen Mitarbeitern bieten wir an verschiedenen Brennpunkten der Stadt Frühstückstreffen für Straßenkinder, Jugendliche und Familien der Straße an, zum Beispiel unter der Amerikabrücke. Dort wohnt eine Straßenbande von etwa 30 Teenagern, die sich "die Unberührbaren" nennen, außerdem einige Familien der Straße. Wir bieten Frühstück, Andacht, Gespräche, Fußball, medizinische Versorgung - das sind gute Möglichkeiten, einen persönlichen Kontakt aufzubauen.

Auf der Straße laden wir auch in unser Kontaktzentrum ein. Die Besucherzahl ist dort so rasant angestiegen, dass es oft eng wird. Nachmittags kommen bis zu 80 Leute von der Straße - wir sind die Anlaufstelle für alle möglichen Probleme; "Soforthilfe" ist da wirklich der richtige Name! Manche möchten in ein Rehaprogramm gebracht werden, andere informieren uns, dass jemand gestorben ist oder umgebracht wurde; oder die Polizei hat ihnen ihr Baby weggenommen. Oft gilt es, Streitigkeiten zu schlichten sowie zur seelsorgerlichen Beratung zur Verfügung zu stehen. Manche kommen auch nur, um Tee zu trinken, zu duschen, zu spielen, Videos zu schauen oder Wäsche zu waschen. An einem Nachmittag baten etwa 40 Straßenjungs um medizinische Versorgung. Unsere argentinische Krankenschwester hat alle Hände voll zu tun.Viele wurden von der Polizei verprügelt und brauchen abschwellende Medikamente. Häufig sind Messerstichverletzungen, Kopfplatzwunden, Verbrennungen und Frakturen. Manche haben ihre Wunden auf der Straße schon selbst behandelt, etwa durch Cocablätter und Alkohol, mit viel Zeitungspapier und schmutzigen Lumpen zugewickelt. Auf Prellungen kommt ein in Urin getränkter Lumpen und auf Schnittwunden Zahnpasta. Man kann sich gut vorstellen, wie schwierig da die Wundreinigung ist!

Viele Teenies und Jugendliche kommen mit Syphillis, Gonorrhoe und immer häufiger auch mit AIDS. Auch haben wir ständig Straßenkinder und Jugendliche in verschiedenen Krankenhäusern interniert, etwa bei Tuberkulose, Pankreatitis, Leberzirrhose, Frakturen und anderen Leiden. Unsere Mitarbeiter müssen dann die Patienten versorgen und ihnen Medikamente und OP-Material kaufen. Vom Krankenhaus bekommt man nichts!

. . .und Zahnpasta auf die Wunden

Die Arbeit ist oft mühsam, aber es lohnt sich: Momentan betreuen wir rund 60 Personen, die sich in verschiedenen Einrichtungen rehabilitieren oder schon rehabilitiert sind, manche konnten schon ihre Studien wiederaufnehmen, Arbeit finden, ein Zimmer mieten, oder gar heiraten.

La Paz, Anfang Oktober 2003: Die Polizei findet bei ihren Kontrollgängen am Rand des Abwasserflusses einen Embryo - weggeschmissen, inmitten von Dreck und Müll.

Die Mutter war irgendeines der dort wohnenden Straßenmädchen, niemand weiß, wer. Dieses Ereignis geht durch die Presse, führt zu Schlagzeilen.

Was ist aber mit all den anderen ungeborenen Babies der Straßenmädchen, die häufig von den Vätern oder verfeindeten Bandenmitgliedern durch einen Tritt in den Bauch der Mutter getötet werden? Keiner erwähnt sie, niemand interessiert sich für sie. Und wenn sie es schaffen, zur Welt zu kommen, sind sie meist ungewollt, ungeliebt und werden ausgenutzt. Es ist unser Auftrag, uns dieser kleinsten Straßenkinder anzunehmen und ihnen Gottes Liebe ins Herz zu legen. Für solche Kinder hat unsere Kindertagesstätte "Mi Casita ", übersetzt "Mein Häuschen", offene Türen. Inzwischen betreut die Soforthilfe dort 62 Straßenkinder, die meisten zwischen 0 und 6 Jahren. Diese Allerkleinsten haben alle alkohol- oder drogenabhängige Eltern, die meisten wohnen auf der Straße.

Ein besonderer Höhepunkt für die Kinder der Kindertagesstätte und ihre Eltern war unsere diesjährige Weihnachtsfeier am 17. Dzember mit dem Besuch der "Miss La Paz", welche den Kindern Schockolade und Spielsachen verteilte.

Wussten Sie schon, dass in Bolivien 1500 Kinder zusammen mit ihren Eltern in Gefängnissen eingesperrt sind? Die Mitarbeiter der Soforthilfe besuchen solche Kinder in drei Gefängnissen der Stadt. Im Männergefängnis "San Pedro" zum Beispiel nehmen bis zu 100 Kinder im Alter von 1 bis 13 Jahren an unserem wöchentlichen Kinderprogramm teil. In Liedern, Geschichten, Handpuppentheater, kreativen Aktivitäten werden ihnen christliche Werte vermittelt. Nach Entlassung aus den Gefängnissen betreuen unsere Mitarbeiter diese Kinder weiter.

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Autor: Rhein-Neckar-Zeitung