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28.01.2017

"Wir müssen Kinder von Anfang an korrigieren"

"Wir müssen Kinder von Anfang an korrigieren"

Schreib, wie du sprichst: Das soll an Grundschulen nicht mehr erlaubt sein - Doch wie lernen wir eigentlich Lesen und Schreiben?

Pädagoge Lothar Schmitt vor einem seiner Lernspiele. Foto: Sgries

Von Sören S. Sgries

Heidelberg/Schriesheim. Kaine Anung fon Rechtschraibung: Ist es in Ordnung, wenn ein Grundschüler das so an die Tafel schreibt? Oder eine Katastrophe? Darum dreht sich gerade eine intensive bildungspolitische Debatte im Land, die Kultusministerin Susanne Eisenmann mit ihrem Rundbrief an die Grundschulen verschärft hat. Schluss mit der ,,Schreib-und-tipp-wie-du-sprichst"-Methode, so die Grundaussage. Doch lohnt sich die Aufregung?

Viel Ideologie, wenig Ahnung von den Inhalten, urteilt Lothar Schmitt, pensionierter Förderschulrektor, engagierter Nachhilfelehrer und Lernspiel-Entwickler, über die verfahrene Debatte. Auch wenn er selbst kein Anhänger des "Lesen durch Schreiben" ist, meint er: "Die Leselernmethode ist für einen gelingenden Schriftspracherwerb nicht entscheidend." Allerdings müsse die Lehrperson grundlegend wissen, wie Lesen funktioniere und wie es Kindern richtig zu vermitteln sei. Und da beobachte er bei seinen Nachhilfeschülern - quer durch alle Schularten und gesellschaftlichen Schichten -, dass es an den Schulen offenbar durchaus Defizite gebe, sagt der Schriesheimer.

Wie wir lesen lernen:

Lothar Schmitt spricht von einem "phonologischen Bewusstsein", das erworben werden müsse. Die erste Umstellung: Ging es beim Sprechen bislang um Inhalte, sind jetzt formale Eigenschaften wichtig. Es gibt einzelne Laute, die etwas bedeuten - und die man auch in Schriftzeichen fassen kann. Das ist neu.

Doch nach dieser Erkenntnis darf die Entwicklung nicht stehen bleiben. Kein geübter Leser reihe noch Buchstabe an Buchstabe, so Schmitt. Rein zeitlich sei das undenkbar - wer mag, kann gerne einmal ein Wort buchstabieren, dabei die Zeit stoppen und dann überlegen, wie lange die buchstabengetreue Lektüre einer Zeitungsseite dauern müsste.

Also: Das Gehirn vereinfacht. Es werden ganze Silben, ganze Worte, ja, sogar ganze Sinneinheiten erfasst. Tatsächlich wurde nachgewiesen, dass in einem Wort alle Buahscbten in Unordnung gebracht werden können - unbewusst erkennt der erfahrene Leser den Sinn.

Schmitt sagt: "Buchstabenweises Lesen ist nur eine Vorstufe zum geübten Leser, der in größeren Verarbeitungseinheiten liest." Wer also - wie in der umstrittenen Methode des "Lesen durch Schreiben" - den Kindern vorgaukle, man müsse nur W an O an R an T reihen, um ein Wort lesen zu können, der springe zu kurz. Wer sich dauerhaft auf den Buchstabenklang konzentrieren muss, aus dem wird kein flüssiger Leser.

Und es lauert eine zweite Gefahr. "Schon Kindergartenkinder werden Ihnen irgendwann das Taxi-Schild ,vorlesen’", sagt Schmitt - weil sie einfach wüssten, wie dieses Wort aussieht und was es bedeute. Auch Leseanfänger können auf der Schwelle stehen bleiben, dass sie Wörter aufgrund der "Gestalt" erraten. "Dann trägt ein Grundschüler problemlos die ganze Fibel vor", sagt Schmitt - ohne lesen zu können. Denn: "Hund" und "Hand" sehen sich sehr ähnlich, meinen aber etwas Grundverschiedenes. Fehle dieses Bewusstsein, müsse nachgesteuert werden. Er selbst macht in solchen Fällen die Bedeutung des einzelnen Buchstabens anschaulich, indem er seine Schüler einzelne Vokale austauschen lässt. Aus "Mama" wird "Mami". Oder "Momo".

Wie wir Rechtschreibung lernen:

Jürgen Reichen, der 2009 verstorbene Vordenker der "Lesen durch Schreiben"-Methode, hat die Idee vermittelt, Kinder könnten einfach dem Klang nach einzelne Wörter in Buchstaben zerlegen und dann auch wieder als geschriebenes Wort zusammensetzen. Das sei aber Unsinn, sagt Schmitt. Das gelinge keinesfalls allen Kindern, es müssten schon erhebliche Voraussetzungen mitgebracht oder später zuhause vermittelt werden. Außerdem sei die deutsche Sprache - anders als suggeriert werde - keinesfalls "lautrein".

Ein paar Beispiele: "heute" und "Häute" klingen gleich. "mir" und "Stier". "Fuchs" und "Vogel" müssten eigentlich mit demselben Anfangsbuchstaben geschrieben werden. Und warum heißt es nicht "Fux"?

Ein unbekanntes Wort, sagt Schmitt, könne man auf verschiedene Weise angehen. Schreiben, wie man es spricht. Schreiben, wie man ähnlich klingende Wörter schreibt. Die passende Rechtschreibregel suchen. Oder verschiedene Schreibweisen ausprobieren und "nach Gefühl" die vermeintlich richtige auswählen.

Alle Ansätze können in die Irre führen. Zum Beispiel die Rechtschreibregeln. Nach einem langen "i" steht "e" - wie in "Fliege", "Tier", "Bier", "hier". Aber wie schreibt man korrekt Tiger?

Die bittere Wahrheit zur deutschen Orthografie lautet: Sehr viel muss einfach über ein langes Lese-Leben auswendig gelernt werden. Das "Wortbildgedächtnis" funktioniert und weist uns im Zweifelsfall in die richtige Richtung.

Deshalb, warnt Schmitt, dürften Eltern und Lehrer auch keinesfalls Beliebigkeit in den Schreibweisen dulden. Von allein stelle sich keine korrekte Orthografie ein, stattdessen drohe die Gefahr, dass sich Fehler verfestigten. "Wir müssen Kinder von Anfang an korrigieren", fordert er. Nicht auf die harte Tour, sondern sanft: "Du hast das Wort richtig geschrieben, so wie es klingt - es wird jedoch anders geschrieben." Lob und Korrektur gleichzeitig - damit Lesen und Schreiben nicht verleidet werden, der Druck nicht überhandnimmt, aber ein richtiges "Bild" der Wörter entsteht.

"Ich sage meinen Schülern immer: Den Duden gibt es, weil kein Mensch in Deutschland alles richtig schreibt", sagt Schmitt. "Das ist für die Kinder eine Erleichterung."

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Autor: Rhein-Neckar-Zeitung