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10.04.2017

Auch ohne Beine ein ganzer Kerl

Auch ohne Beine ein ganzer Kerl

Florian Sitzmann las aus "Der halbe Mann" und "Bloß keine halben Sachen" - Sein Motto: "Nach vorne denken - immer"

Florian Sitzmann (r.) verlor im Alter von 15 Jahren beide Beine. Jetzt ist er als Autor mit seinem guten Freund und Singer/Songwriter Jörg Schreiner auf Lesereisen - am Freitagabend kam er in den Vereinsraum der Schriesheimer Mehrzweckhalle. Foto: Dorn

Von Nicoline Pilz

Schriesheim. Schubladen, die haben die anderen im Kopf - "normale" Menschen, die mit einem Behinderten wie Florian Sitzmann nicht klarkommen. Weil sich der 40-Jährige partout nicht einordnen lassen will, keinen Bock auf "Stereotypen" hat, wie er sagt.

Der Mann, dem im Alter von 15 Jahren ein Lastwagen an der Abfahrt von einer Raststätte beide Beine abtrennte, nennt die Dinge beim Namen, beschönigt nichts, hält aber auch nichts vom Jammern. "Man muss nach vorne denken - immer", sagt der "halbe Mann" bei seiner Lesung im Vereinsraum der Mehrzweckhalle.

Auch bei dieser Veranstaltung in Kooperation von Stadt, AWO Rhein-Neckar und der Stadtbibliothek, sind es überwiegend Frauen, die ihm zuhören. "Menschen, die ihr Schicksal besiegen, interessieren andere. Jetzt erst recht - das ist die richtige Antwort, und wir können viel von ihnen lernen", findet eingangs Bürgermeister-Stellvertreterin Barbara Schenk-Zitsch.

Sitzmann benutzt keine Begriffe wie "mobilitätseingeschränkt". Er spricht von einer "Behinderung", sachlich, selbstironisch und süffisant, wenn es darum geht, die Reaktionen seiner Mitmenschen zu beschreiben, die sich aufregen, wenn er seinen Sportwagen auf den Behindertenparkplatz stellt. Erst dann nämlich legt er seinen Behindertenausweis in die Scheibe, greift sich seinen Rollstuhl vom Rücksitz und steigt aus.

2003 holte er den Titel des Deutschen Meisters im Handbike-Einzelfahren und nahm ein Jahr später an den Paralympics in Athen teil. Bis heute hält er den Streckenrekord im Handbike beim 560 Kilometer langen Styrkeprøven-Rennen im Jahr 2006, das er nach 30 Stunden und 30 Minuten ohne Pause abschloss. Ein Ereignis, das er mit Freund Stephan anging, demjenigen, der damals das Motorrad fuhr, mit dem sie verunglückten.

An seinem 16. Geburtstag erfuhr der damals 2,05 Meter große Jugendliche, dass seine Beine nicht mehr da sind. Es folgten zwei Jahre im Krankenhaus, 50 Operationen und zwei schwierige Jahre in der Reha-Einrichtung in Neckargemünd, über die er nicht viel Gutes zu berichten weiß.

17 Jahre nach seinem Unfall schrieb er seine Biografie "Der halbe Mann - dem Leben Beine machen". Danach folgten Lesereisen, wie in Schriesheim mit Musikbegleitung von Singer/Songwriter Jörg Schreiner, Einladungen in Fernsehsendungen, zu Interviews und Homestorys. Er habe "viel für sein Buch getan", sagt Sitzmann. Der Erstling verkaufte sich 18.000 Mal, 2012 folgte der Titel "Bloß keine halben Sachen - Deutschland, ein Rollstuhlmärchen".

Bis aus dem früheren Hünen ein "Sitzmann im Rollstuhl" wurde, brauchte es Zeit, Optimismus und ein unbedingtes Ja zum Leben. Heute ist der 40-Jährige zum zweiten Mal verheiratet, hat aus erster Ehe eine neunjährige Tochter und knapp zweijährige Zwillinge. Mit seiner "positiven Biografie" wolle er anderen Mut machen, meint er. Und er sieht sich als Mittler zwischen "Behinderten" und "Fußgängern", als einen, der Barrieren in den Köpfen einreißen will.

Immer wieder sucht er den Kontakt zum Publikum, lacht, macht Scherze und unterhält sich mit seinem alten Freund Jörg Schreiner. Aus beiden Büchern liest er - schnell und ein wenig abgehackt. Ein wenig getrieben vielleicht als einer, der im Leben lieber auf der Überholspur ist. Ein ganzer Kerl - auch ohne Beine.

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Autor: Rhein-Neckar-Zeitung