Schriesheim im Bild 2023

27.12.2004

Vom Umgang mit der Menschenwürde

Die Altenpfleger haben einen harten Beruf, aber ohne sie würde unsere Gesellschaft kollabieren - Die RNZ begleitete einen Arbeitstag im Stammberg-Heim

Von Dorothee Riedinger

Schriesheim. "Kannst du mir vielleicht den Blutdruck messen, Jürgen?", fragt ein Bewohner des Pflegeheims Stammberg den Pflegehelfer, "mir geht es heute irgendwie schlechter." Und weil das Motto der Altenpfleger, Pflege- und Diakoniehelfer des Schriesheimer Pflegeheims "den Jahren Leben geben" und nicht "dem Leben Jahre geben" lautet, kümmert sich Jürgen sofort um den alten Herrn. Nach ein paar Minuten kann der Betreuer Entwarnung geben, Puls und Blutdruck sind völlig normal und der Bewohner ist zufrieden. Vielleicht war es auch nur ein wenig Aufmerksamkeit, die der besorgte Bewohner mit seiner Bitte einforderte. Soweit es möglich ist, erfüllt der Pflegehelfer Wünsche dieser Art auch gerne. Die RNZ-Mitarbeiterin Dorothee Riedinger machte sich einen ganzen Tag lang ein Bild vom Alltag eines Pflegemitarbeiters und bekam Trauriges wie Erfreuliches zu sehen.

Seit zwei Stunden ist sie nun schon im Dienst, die Altenpflegerin Heike Pufal, als ich gegen 8 Uhr auf der Ebene 0 im Neubauteil des Stammberghauses eintreffe. Jede Ebene hat eine andere Wandfarbe und ist unterschiedlich eingerichtet. Insgesamt gibt es vier Etagen, auf denen 96 Bewohner leben - 24 pro Ebene. Jeder Bewohner ist pflegebedürftig. Einige Bewohner in diesem Wohnbereich leiden unter der so genannten Altersdemenz, dem Verfall der geistigen Leistungsfähigkeit. Man versteht darunter vor allem die Abnahme von Gedächtnisleistung und Denkvermögen. Fast jeder zweite 90-Jährige leidet an Demenz

Demenzerkrankte wissen nicht mehr wo sie sind und wie spät es ist. Manchmal erkennen sie nicht einmal mehr ihre Angehörigen. Aggressives oder enthemmtes Verhalten, eine depressive oder sprunghafte Stimmung im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung erschweren die Arbeit für Angehörige genauso wie für die Pfleger.

Etwa acht bis 13 Prozent aller Menschen über 65 Jahre leiden unter einer Demenz. Bei den über 90-Jährigen sind es sogar 40 Prozent. Vermutlich wird diese Zahl noch weiter steigen, weil der Anteil alter Menschen an der Gesamtbevölkerung zunimmt. Schon heute sind Demenzen der häufigste Grund für eine Einweisung ins Pflegeheim. Das ist auch im Stammberg so. Die meisten Bewohner sind nämlich noch recht mobil und sei es auch nur mithilfe eines Rollators oder eines Rollstuhles.

Um halb neun gibt es im Wohnbereich E0 Frühstück. Die Weihnachtszeit geht natürlich auch am Haus Stammberg nicht unbemerkt vorüber. Die Aufenthaltsräume, der Festsaal, die Kapelle, der Therapieraum und auch die Zimmer der Bewohner sind festlich geschmückt - mit Tannengrün, Sternen, Adventskränzen und Krippen.

Die meisten Bewohner sitzen schon am gemeinsamen Frühstückstisch, viele mit einem Kleidungsschutz um den Hals. So versuchen die Pfleger größere Missgeschicke zu verhindern. Schwester Heike muss sich nun um die "schweren Fälle" kümmern, um diejenigen Bewohner, die nicht alleine aufstehen können. "Guten Morgen Frau Bayer", sagt sie mit lauter Stimme zu der noch sehr verschlafen wirkenden Bewohnerin. Schwester Heike richtet sie in ihrem Bett auf, bittet sie den Mund zu öffnen und die Tablette unzerkaut zu schlucken. Die Bewohnerin folgt der Aufforderung und erntet von der Schwester gleich ein großes Lob. Als sie wieder aus dem Zimmer geht, lässt sie die Tür offen, schließlich werden gleich andere Mitarbeiter zum Waschen kommen. Auf dem Flur kommt Schwester Heike ein Arzt entgegen, der ihr mitteilt, dass soweit alles in Ordnung sei. Er ist einer von vielen betreuenden Ärzten, die mindestens ein Mal in der Woche nach ihren Patienten schauen, sie zu untersuchen, Verordnungen festzulegen und Medikamente zu verschreiben.

An diesem Morgen wird Schwester Heike von vier weiteren Mitarbeitern unterstützt: Pflegehelfer Jürgen, der besonders bei den Bewohnerinnen sehr beliebt ist, Schülerin Claudia, die im ersten Lehrjahr der Ausbildung zur Altenpflegerin ist sowie Diakoniehelferin Miriam und Pflegehelferin Nadine. Als der Frühstückswagen gebracht wird, haben die Mitarbeiter alle Hände voll zu tun. Im Gegensatz zu vielen anderen Heimen verfügt das Pflegeheim Stammberg nämlich über eine eigene Küche, die auf die bestimmten Bedürfnisse und Wünsche der einzelnen Bewohner eingehen kann.

Im Hintergrund läuft ein Fernseher. Irgendein dritter Sender ist eingeschaltet und erfüllt den Aufenthaltsraum mit bayerischer Volksmusik. Währenddessen helfen andere Mitarbeiter wo es notwendig ist den Bewohnern beim Essen. Immer wieder reichen sie den Bewohnern Brotstückchen oder einen Löffel Joghurt. Manche sind zum Essen einfach zu schwach, andere vergessen einfach, dass sie Hunger haben oder sagen, sie seien satt. Auch das regelmäßige Anspornen zum Trinken gehört zu den Aufgaben der Pfleger. Sie achten immer darauf, dass genügend Limonade, Saft und Wasser auf dem Tisch steht und die Bewohner ein Mindestmaß an Flüssigkeit zu sich nehmen. "Jürgen, ich bin fertig", ruft eine Bewohnerin immer wieder und besteht darauf, dass ihr Tablett abgeräumt wird. An einem anderen Tisch beschwert sich eine Frau, dass die Pfleger nicht die Marmelade essen, die ihr ein Verwandter für das Personal mitgebracht hat.

Die Frühstückstabletts sind - teilweise von den Bewohnern selbst - abgeräumt , die Spülmaschine läuft und die Bewohner sind erst einmal versorgt. Es ist Zeit für die erste Pause an diesem Morgen. Seit 6 Uhr sind die Mitarbeiter der Frühschicht nun schon im Dienst, Feierabend ist erst um 13.30 Uhr. Ab 12.50 Uhr wird die Spätschicht antreten, bevor diese um 20.20 Uhr von der Nachtwache abgelöst wird. "Wir haben keine festen freien Tage. Außerdem steht alle zwei Wochen der Wochenenddienst an", so Heike Pufal. Mit Kaffee, einer Zigarette und einem zweiten Frühstück tauschen sich die fünf Mitarbeiter aus. Therapiestunde bei Gabriele Dudys: Dort werden die alten Herrschaften an den Wochentagen in unterschiedlichen Gruppen meist eine dreiviertel Stunde lang mit Gymnastik, Musiktherapie oder Gedächtnistraining beschäftigt. Diesmal dreht sich alles um das Thema Weihnachten. Bei Kerzenschein geht ein Säckchen herum, dessen Inhalt ertastet werden muss. Auch wenn einige Frauen lieber von den selbst gebackenen Plätzchen naschen, so beteiligen sich viele rege. "Es ist immer wieder ein Balanceakt zwischen Redenlassen und Gesprächslenkung, denn einige hören sich gerne reden und plappern die ganze Zeit vor sich hin, andere schlafen während der Therapie fast ein", erzählt die Therapeutin. Und wenn dann eine Patientin plötzlich aus sich heraus geht und erzählt, was bei ihr den Weihnachtsbaum schmückte oder welche Zutaten in den Plätzchenteig gehören, ist das für Gabriele Dudys immer ein Erfolgserlebnis. "In der Therapie halten sich beide Geschlechter die Waage", erklärt Dudys. In der Statistik für das Jahr 2004 sieht das aber anders aus. Derzeit befinden sich 23 Männer und 73 Frauen im Heim. Das Durchschnittsalter liegt bei 81,8 Jahren. Die in diesem Jahr aufgenommenen Bewohnern sind sogar noch älter, durchschnittlich nämlich 82,6 Jahre.

Ein unangenehmes Geräusch ertönt aus der Notrufanlage. Und das ist nicht das erste Mal an diesem Tag. Wieder einmal hat jemand den Rufknopf über seinem Bett betätigt und Schwester Heike muss schnellstmöglich in das Zimmer eilen. Oft sind es nur Alltagssorgen, wenn die Bewohner beispielsweise nicht mehr alleine auf die Toilette können, aber man kann ja nie wissen. Gegen 11.30 Uhr ist es auch schon wieder Zeit für das Mittagessen und das Prozedere vom Morgen beginnt von vorne. Die Pfleger müssen besonders einen Mann im Rollstuhl betreuen, der nicht selbst essen kann. Nach ein paar Bissen geben sie jedoch auf. Schwester Heike entscheidet, den Mann ins Bett zu bringen, denn er kann sich nicht mehr aufrecht halten. Umso erstaunlicher ist es, dass der ältere Herr nach ein paar Stunden Schlaf wieder topfit beim Nachmittagskaffee erscheint.

Heike Pufal ist seit 18 Jahren in der Pflege tätig. Doch auch nach den vielen Jahren macht ihr der Job noch Spaß. "Ich mache meinen Beruf gerne. Es ist immer wieder schön." sagt sie. Es kommt immer wieder vor, dass ein Bewohner, den man seit Jahren betreut hat, verstirbt. Mit der Zeit muss man lernen, mit dem Tod umzugehen. Für Schwester Heike ist das aber auch heute noch eine Gratwanderung: "Wenn jemand verstirbt, muss man schauen, dass es einen nicht zu sehr trifft. Aber natürlich hat man schon eine Beziehung aufgebaut. Schließlich sind manche Bewohner zehn Jahre oder länger hier", erzählt sie nachdenklich. Da ist sie sehr froh, dass fast alle Bewohner regelmäßig Besuch von ihren Angehörigen bekommen, die sich wenigstens für ein paar Stunden um die Verwandte oder den Verwandten im Heim kümmern.

Auch an diesem Dienstag ist eine Besucherin während des Nachmittagskaffes um 14.30 Uhr im Aufenthaltsraum. Elsbeth Hauk besucht ihre 91-jährige Mutter, Frau Schmitt, die erst seit vier Wochen im Stammberg wohnt. "Ich kam über meine Schwester, die in Leutershausen wohnt, auf dieses Pflegeheim. Und bis jetzt sind wir zufrieden mit der Betreuung hier", so Hauk, die ihre Mutter zwei Mal in der Woche besucht.

Endlich geschafft. Die Frühschicht beendet ihren Dienst an diesem Tag und muss nur noch den Schichtwechsel mit der Übergabe überstehen. Alle Mitarbeiter versammeln sich dafür im Dienstzimmer, wo Schwester Heike jeden Bewohner erwähnt und die nachfolgenden Schicht über Besonderheiten und Probleme der einzelnen Heimbewohner informiert. Ab jetzt sind nur noch drei Pfleger für die 24 Bewohner zuständig. Annelie Meißner, Krankenschwester und kommissarisch Wohnbereichsleiterin, übernimmt die Leitung und wird von der Pflegehelferin Anja sowie von Ulrike, Schülerin im dritten Ausbildungsjahr, entlastet. Die Ausbildung zum Altenpfleger ist übrigens seit dem ersten August 2003 bundeseinheitlich geregelt. Sie dauert drei Jahre und schließt mit einer staatlichen Prüfung ab. Zurzeit absolvieren im Haus Stammberg zwölf Mitarbeiter eine Ausbildung zum Altenpfleger, acht junge Menschen leisten hier ein Freiwilliges Soziales Jahr.

Die neue Schicht muss zuerst frische Wäsche in die Bewohnerzimmer bringen. Bei dieser Gelegenheit kann ich mir einige Zimmer genauer ansehen. Bis auf das Bett können die Bewohner ihre Möbel selbst mitbringen und ihr Zimmer individuell gestalten. Oft findet man alte Schwarz-Weiß-Bilder an den Wänden, die die Bewohner als Kinder mit ihrer Familie zeigen, gelegentlich auch ein Hochzeitsfoto. Jedes Zimmer verfügt über ein Bad mit einer Nasszelle, außerdem hat jeder Bewohner ein eigenes Waschbecken. Während der Arbeitszeit muss der Pfleger ständig abrufbar sein

Während die Mitarbeiter nach dem Nachmittagskaffee erschöpfte Bewohner zum Schlafen auf ihr Zimmer bringen, müssen sich die anderen selbst beschäftigen. Da kann es schon einmal vorkommmen, dass eine Dame ein fremdes Zimmer betritt und von der erschrockenen Bewohnerin angeschrien wird. Für die verirrte Besucherin ist die lautstarke Rüge so schlimm, dass sie bitterlich zu weinen anfängt. Und weil ich gerade keinen Betreuer sehe, versuche ich kurzerhand selbst die Frau zu trösten.

Nun legen die Pfleger der Spätschicht selbst eine Pause ein. Doch lange währt der Frieden nicht, denn ein ungeduldiger Rollstuhlfahrer versucht sich mit aller Kraft aus seiner Fixierung zu lösen und fällt fast aus dem Gefährt. Schnell eilen zwei Mitarbeiter hin, um ihn zu besänftigen. Kurz darauf wird der Bewohner auch ins Bett gebracht, denn die Pfleger können ihn nicht rund um die Uhr beaufsichtigen. Inzwischen ist es 18 Uhr geworden, ich habe für diesen Tag genug gesehen und verabschiede mich nach zehn Stunden im Pflegeheim Stammberg von den Betreuern und den Bewohnern. Für diese heißt es noch vier Stunden lang durchhalten. Erst dann können sie nach getaner Arbeit in den wohlverdienten Feierabend gehen ohne jede Sekunde abrufbereit zu sein.

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Autor: Rhein-Neckar-Zeitung