Schriesheim im Bild 2023

31.03.2011

Die Rollen werden neu verteilt

Von Carsten Blaue

Schriesheim. Der 17. November 2008 ist ein historischer Tag für Schriesheim. Innenminister Heribert Rech kommt aus Stuttgart zum ersten Spatenstich für den Branichtunnel. Und schon damals ist nicht nur Georg Wacker davon überzeugt, dass der Ministerpräsident persönlich zum zweiten, zum "großen Spatenstich" kommt, wenn es mit den Sprengungen für die Röhre selbst losgeht. Der Schriesheimer Landtagsabgeordnete der CDU nennt damals sogar den Namen Günther Oettinger. Und selbst als sich auf der Baustelle alles verzögert, der Tunnel-Anstich in der Zeitplanung auf das Jahr 2011 verschoben wird und der Regierungschef plötzlich Stefan Mappus heißt, stellt sich bei den Kämpfern für den Tunnel und im konservativen Schriesheim nur die Frage, ob auch er kommt oder eben nicht. Keiner wäre darauf gekommen, dass Mappus zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr im Amt ist, geschweige denn, dass die CDU den Regierungschef gar nicht mehr stellt. Ministerpräsident, das war im "Ländle" immer CDU. So war es in den Köpfen. Bis zuletzt auch in Schriesheim. Einer Stadt, deren politisches Selbstverständnis geradezu auf den Kopf gestellt wird in einem Entwicklungsprozess, der vor fünf Jahren begann.

Schriesheim ist ein spezieller Fall. Lange waren die politischen Rollen ebenso klar verteilt, wie im Land. CDU und FDP hatten alleine in den vergangenen 35 Jahren durch ihre Landtagsabgeordneten immer den direkten Draht nach Stuttgart – zu den Regierenden, zur Macht. Erst durch Dr. Gerhard Scheuer (CDU) von 1976 bis 1988, dann durch Bernhard Scharf (FDP) von 1988 bis 1996 und seitdem durch Georg Wacker (CDU), zu dem in der letzten Legislaturperiode noch Dr. Birgit Arnold (FDP) dazukam.

Flankiert war das Ganze meist von einer stabilen konservativen Mehrheit aus CDU, Freien Wählern und etwas FDP im Gemeinderat und von einem Bürgermeister, der von 1974 bis 2006 Peter Riehl hieß und nicht umsonst den Spitznamen "Schwarzer Peter" trug. Man agierte gemeinsam. Das "Regieren", das Bestimmen und Gestalten nach Lust, Laune und Überzeugung war Teil der eigenen Anschauung, die sich auch aus der Landespolitik ableitete.

Die SPD wurde im Ort als Volkspartei immer respektiert, lange her aber sind die Zeiten, dass sie im Gemeinderat die stärkste Kraft war. Und die Grünen galten als "Spuk", als sie 1980 erstmals mit Reimund Schambeck und Gisela Reinhard in den Gemeinderat einzogen. Schon vier Jahre später konnten sie aber ihr Wahlergebnis verdoppeln. Zu Schambeck kamen Christian Wolf, Vera Vaihinger und Hansjörg Höfer.

Mit seinem Namen ist die erste politische Zäsur für Schriesheims konservative Kräfte verbunden. Seine Wahl zum Bürgermeister im Jahr 2005 war für sie der erste Schock. Dann die Kommunalwahl im Jahr 2009, als die Grünen die Union sogar fast abgelöst hätten als größte Fraktion im Gemeinderat – mit 25,2 Prozent der Stimmen lagen sie damals nur 0,3 Prozentpunkte hinter der CDU. Und jetzt die Landtagswahl. Auch wenn Schriesheim am Sonntag noch immer mehrheitlich "schwarz" wählte: Grün war die zweitstärkste Kraft im Ort und verringerte den Abstand auf die CDU deutlich. Verbunden mit dem Machtwechsel in Stuttgart, müssen sich die Parteien in Schriesheim nun in ihre neuen Rollen fügen. Die CDU ist nicht mehr der "Platzhirsch". Auch "unser Staatssekretär" müssen die Schriesheimer Unionsmitglieder aus ihrem Wortschatz streichen, wenn sie über Georg Wacker sprechen. Dafür können sie gegen Grün-Rot in Stuttgart wettern und den besseren Zeiten nachhängen. Sie können sich zudem mit der gleichen Erkenntnis trösten, die sie am vergangenen Wochenende so verstörte. Dass nämlich auch in der Politik nichts ewig ist. Für die FDP ist die Lage im ganzen Land nicht leicht. Auch nicht in Schriesheim, zumal die eigene Abgeordnete abgewählt wurde und sich aus der Politik verabschiedet hat.

Und die Grünen und die SPD? Die Sozialdemokraten müssen sich im Ort künftig auf die Politik der Landesregierung ansprechen lassen, müssen den Bürgern hier Rede und Antwort stehen, vielleicht sogar Stuttgarter Beschlüsse moderieren, erklären, an der Basis anbringen in ihren "Generationentreffs". Daran muss man sich auch erstmal gewöhnen. Für die Grünen wird es noch schwieriger, denn sie können jetzt gar nicht mehr so wie vorher. Sie haben in 30 Jahren auch in Schriesheim den Weg vom "Spuk" ins politische Establishment vollzogen. Für manche grenzt das noch heute an Verrat an den Idealen. Regieren war nicht das Ziel grüner Anfänge. Jetzt wollen sie es in Stuttgart.

Auch in Schriesheim müssen sie lernen, Regierungshandeln zu vertreten – und das in umstrittenen Fragen nicht nur mit durchschaubaren Verweisen auf "das schwere Erbe der Vorgängerregierung". Für die Grünen im Ort ist das neue Kommunizieren offensichtlich zunächst ein mentales Problem, wenn Reinhard sagt, das müsse erst noch "im Kopf" ankommen. Eine Ausrede wird ihnen dabei niemand abnehmen: Dass nämlich Partei-Grün mit Schriesheims Grüne Liste-Grün nichts zu tun hat. Bündnis 90/Die Grünen und die GL werden als eins wahrgenommen. Und sie werden bis Herbst eine Frage beantworten müssen: Kommt ihr künftiger Ministerpräsident Winfried Kretschmann zum "großen Spatenstich" für den Branichtunnel, obwohl die Grünen immer gegen das Projekt waren?

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Autor: Rhein-Neckar-Zeitung