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17.10.2013

Der lange Weg einer Postkarte



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Der lange Weg einer Postkarte

Helga Knaute brachte Wilhelm Müller die Karte persönlich vorbei, die sein Vater am 16. Januar 1949 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft an die Familie schrieb. Fotos: Kreutzer

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Helga Knaute brachte Wilhelm Müller die Karte persönlich vorbei, die sein Vater am 16. Januar 1949 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft an die Familie schrieb. Fotos: Kreutzer

Von Carsten Blaue

Schriesheim/Heidelberg. Das ist die Geschichte eines schönen Zufalls. Die Geschichte einer Postkarte, die am Sonntag, 16. Januar 1949 im sowjetischen Lazarettlager 7601 des Gulag Tscheljabinsk am Ural geschrieben wurde und knapp 65 Jahre später einen tief bewegten Empfänger findet, den Sohn des Absenders. Diese Geschichte beginnt mit einer guten Entscheidung von Helga Knaute.

Mitte September greift die Kirchheimerin zum Telefon und ruft in der RNZ-Redaktion an. Sie habe im Keller in den alten Bücherkisten ihres Schwiegervaters Erich ein rotes Büchlein gefunden. Das sei ziemlich mitgenommen. Aber die Postkarte darin, die sei so gut erhalten, die könne sie nicht einfach wegschmeißen, sagt sie. Und da sie an eine Familie Jakob Schmitt in der Friedrichstraße 16 in Schriesheim adressiert sei, da habe sie sich gedacht, dass man vielleicht noch Angehörige finden kann, die sich darüber freuen.

Helga Knaute hatte vorher sogar selbst nachgeforscht. Ohne Ergebnis. Schmitts gibt's nur noch nebenan, und die hätten mit den Schmitts aus der Sechzehn nichts zu tun. Also wendet sich Knaute an die Zeitung. Vielleicht lohne sich eine Recherche: "Ich will die Karte nicht behalten." Nur einen Wunsch hat Knaute. Falls es doch jemanden gibt, der sich heute über die Post freut, dann würde sie ihn gerne kennenlernen. Ein Blick auf den Absender lässt die Hoffnung aufkeimen, dass daraus etwas wird. Es gab schließlich nicht viele Martin Müller in Schriesheim. Und dieser Martin Müller ist bis heute nicht vergessen, war er doch von 1969 bis 1980 Aufsichtsratschef der hiesigen Winzergenossenschaft. Und sein Sohn ist ebenso stadtbekannt. Drei Wochen später sitzt Helga Knaute in der Weinstube Müller in Schriesheims Max-Planck-Straße neben dem Hausherrn.

Wilhelm Müller ist ein stiller, stattlicher Winzer und Wirt, der äußerlich nie zu großen Emotionen neigt und erst mal von seinem Ruländer einschenkt. Jetzt hält er die Postkarte des Roten Kreuzes in der Hand, die sein Vater aus der Kriegsgefangenschaft einst an die Familie seiner Schwester Sophie schrieb, die mit Jakob Schmitt verheiratet war.

Ein schöner, ein schmerzhafter Moment sei das, sagt Wilhelm Müller und schämt sich seiner Tränen nicht. Nur Fotos hatte er bislang vom Vater aus der Kriegszeit, keine handschriftlichen Zeilen: "Ja, das ist seine Schrift." Es ist ein Lebenszeichen. Das rote Buch hat die blaue Tinte all die Jahre gut geschützt. Martin hatte am 1. Januar 1949 seinen 35. Geburtstag gehabt. 15 Tage später schreibt er, bei "bester Gesundheit" zu sein. Mit Sehnsucht warte er auf Post. Auch schreibt er von der "Heimfahrt", auf die er weiter hoffe. Grüße sendet er an den Vater, alle Angehörigen und "Marichen": Marie Mack, die Mutter von Wilhelm Müller. Er erinnert sich, dass sein Vater Mitte des Jahres 1949 nach fünfjähriger Gefangenschaft wirklich entlassen wurde und schon drei Monate später sein "Marichen" heiratete. "Es hatte keiner mehr daran geglaubt, dass er aus dem Krieg kommt", sagt Wilhelm Müller. Ihm fällt dazu eine Anekdote aus den Familienerinnerungen ein.

Sein Vater Martin habe drei Schwestern und zwei Brüder gehabt. Und als es einen Wingert zu parzellieren gab, da sei dieser durch fünf geteilt worden: "Als mein Vater dann doch wieder da war, da hat seine Schwester Sophie dafür gesorgt, dass der Weinberg durch sechs geteilt wurde", erzählt der Winzer und schaut dabei die vergilbte, aber unbeschadete Postkarte an, die auf den schon losen Seiten des aufgeschlagenen roten Buches liegt. Es ist Peter Roseggers "Die Försterbuben. Ein Roman aus den steirischen Alpen". Während Helga Knaute und Wilhelm Müller plaudern, kommen langsam die ganzen Fragen. Wie gelangte ihr Schwiegervater an das Buch mit der Karte seines Vaters? Warum kam die Karte nie bei Martins Schwester an? Hatten sich Erich Knaute und Martin Müller in der Kriegsgefangenschaft kennengelernt, was nach Helga Knautes Schilderungen durchaus möglich gewesen wäre? "Da spinnt man sich ja gleich seine Gedanken zusammen", sagt Knaute.

Nachfragen kann man bei niemandem mehr, Anhaltspunkte gibt es nicht. Auch nicht zu der Frage, wie Martin Müllers Karte in das Buch kam, das einmal einer anderen Schriesheimerin gehört haben muss: Flora Fuld. Ihr Name steht vorne auf der ersten Seite der "Försterbuben". Sie stammte aus einer jüdischen Familie. Ihre Eltern Julius und Mina flohen 1939 als letzte vor den Nazis aus der Stadt nach Feudenheim und wurden später nach Gurs deportiert. Ihre Tochter Flora war bereits 1928 im Alter von 27 Jahren nach Bergzabern gezogen und hatte dort geheiratet.

Mit ihrem Mann wanderte sie nach New York aus und kaufte ihre betagten Eltern aus Gurs frei. Ein Buch, eine Postkarte, Familiengeschichten. Zum Glück hat Helga Knaute ihren Fund nicht weggeworfen.

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Autor: Rhein-Neckar-Zeitung