Schriesheim im Bild 2023

07.02.2004

Die Aufdeckung einer unheimlichen Vergangenheit

"Das endlose Jahr" von Gisela Heidenreich: Eine Autobiografie, die auch vor den letzten Geheimnissen der Nazi-Zeit nicht zurückschreckt

Schriesheim. (hei) "Gisela Brunhilde - ich fühle mich immer noch unwohl mit diesem Namen. Meine Mutter konnte das nie verstehen - so ein schöner deutscher Name, wie sie fand." Gisela Heidenreich ist am 31. August 1943 in Oslo in einem Lebensborn-Heim geboren. Ihre Mutter hat lange über ihre Vergangenheit geschwiegen, bis ihre Tochter das nicht mehr akzeptiert hat und selbst auf die Suche gegangen ist.

In ihrem Buch "Das endlose Jahr" beschreibt sie autobiografisch, wie sie das Geheimnis ihrer Mutter nach und nach gelüftet hat. Endlos ist dieses Jahr, weil es noch immer viel Leid aus dieser Zeit gibt, das bis in die Gegenwart hineinreicht. Am Donnerstagabend war Heidenreich im Hotel zur Pfalz, hat aus dem Buch vorgelesen und auch einiges über die geschichtlichen Hintergründe zu berichten gewusst. Veranstalter der Lesung waren die Schriesheimer Grünen.

Einleitend sprach Dr. Jochen Hörisch, Professor für neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Mannheim, über das "Unheimliche" in Heidenreichs Buch. Als unheimlich bezeichnet er die Situation, die eigene Mutter und Herkunft nicht zu kennen. Vergangenheit und Persönlichkeit vieler Personen des Buches scheinen sich zu widersprechen. So lernt Heidenreich ihren Vater, einen ehemaligen SS-Mann, als liebenswürdigen Menschen kennen. Für Hörisch zeigt das Buch sehr gut, wie Lebensgeschichten und Zeitgeschichte ineinander verwoben sind. Dies führe zu Unklarheiten, die vieles unheimlich erscheinen ließen.

Vor zehn Jahren hat Gisela Heidenreich damit begonnen, belastende Situationen und Erinnerungen an ihre Kindheit aufzuschreiben. Als Familien- und Paartherapeutin ist sie davon überzeugt, dass die Wurzeln vieler Probleme der Gegenwart in der Vergangenhei zu suchen sind. Also macht sie sich auf die Suche nach ihrer Vergangenheit, um sich mit ihrer Mutter aussöhnen zu können. Erst am Ende gelingt es ihr, das Misstrauen, das sie dieser gegenüber lange Zeit empfunden hat, abzulegen. Und auch ihre Mutter ist schließlich erleichtert. Das Buch ist für sie, als ob eine lebenslange Schuld endlich abgefallen ist, berichtet ihre Tochter.

"Das endlose Jahr" beschäftigt sich aber nicht nur mit Heidenreichs persönlicher Vergangenheit. Das Buch will außerdem eines der letzten Geheimnisse der NS-Politik aufdecken helfen: Lebensborn. Die Lebensborn-Heime waren weder Bordelle noch Wohlfahrtseinrichtungen, wie Heidenreich gleich zu Beginn klar stellt. Sie waren ein gnadenloses Instrument der Rassenpolitik. Als Heinrich Himmler 1935 den Lebensborn e.V. gründete begründete er dies damit, dass Deutschland es sich nicht leisten könne, auch nur einen Tropfen reinen deutschen Blutes zu verlieren. In den Heimen sollte der "Adel der Zukunft, wertvoll an Körper und Geist" entstehen. Für dieses Ziel raubten die Nazis sogar Kinder. Auf den Standesämtern des Lebensborn Vereines bekamen diese dann neue Papiere. Kranke, schwache und behinderte Kinder wurden zu Opfern der Euthanasie.

Wie Heidenreich schließlich herausfindet, war ihre Mutter Angestellte des Lebensborn-Heimes in Oslo. Sie spielte eine wichtige Rolle in der Vermittlung von Kindern an Adoptiveltern. Bis zuletzt behauptet sie, etwas Gutes getan zu haben. Schließlich habe sie Kindern zu einer besseren Zukunft verholfen und kinderlose Paare glücklich gemacht. Erst als sie über 80 Jahre alt ist, gesteht sie sich ein, dass sie das System unterstützt hat.

Sie selbst war über ihre Tochter lange Zeit nicht besonders glücklich, was das Verhältnis der beiden sehr belastet hat. "Immer sagt sie ,das Kind', wenn ich sie nach mir frage", beklagt sich Heidenreich in ihrem Buch. Als ihre Mutter aus Norwegen nach Deutschland zurückkehrt, gibt sie ihre Tochter als norwegisches Waisenkind zu ihrer Schwester. Erst später steht sie zu ihr und auch dann gibt es Momente, in denen sie ihre Tochter verleugnet. Das Kind sucht den Grund dafür bei sich selbst und fragt sich immer wieder, warum es keinen Grund für die Mutter gibt, stolz zu sein.

Diese wollte es ihr aber wie sie sagt nur leichter machen, nicht schwerer. Und heute macht ihr ihre Tochter keine Vorwürfe mehr. Sie will sich nicht anmaßen, zu behaupten, sie hätte es besser gemacht.

Copyright (c) rnz-online

Autor: Rhein-Neckar-Zeitung