Schriesheim im Bild 2023

24.02.2004

Reise in die Geschichte der Harmlosen

Die einst aus Schriesheim vertriebene Jüdin Margot Fuld erlebte beim Liederkranz Heimatgefühle

Liederkranz-Vorstand Jürgen Betzin (links) überreicht Margot Fuld die Kopien der historischen Protokollbücher des Leopold Fuld, rechts daneben Gretel Metz und Ehrenbürger und Zeitzeuge Peter Hartmann. Foto: Kreutzer

Von Roland Kern

Schriesheim. Beachtlich: In einer heiklen Situation hat der Schriesheimer Gesangverein Liederkranz am Freitagabend den richtigen Ton getroffen. Margot Fuld, die einst aus Schriesheim vertriebene Jüdin, deren Vater 1933 aus dem Liederkranz-Vorstand verbannt worden ist, erlebte bei einem für sie arrangierten Empfang wahre Heimatgefühle. Es war ein historischer Abend der Versöhnung.

Was die Welt morgen bringt,
ob sie uns Sorgen bringt, Freud oder Leid,
komme was kommen mag,
Sonnenschein, Wetterschlag,
morgen ist auch ein Tag, heute ist heut.
(Lied des "Clubs der Harmlosen")

"Dann folgte die Gleichschaltung unseres Vereins nach dem Führerprinzip unseres Volkskanzlers Adolf Hitler, wir konnten keinen Besseren finden als Führer des Liederkranzes als unseren Sangesbruder Philipp Krämer." Mit diesem Satz, geschrieben im Liederkranz-Protokollbuch des Jahres 1933, quittierte sich Leopold Fuld als Schriftführer quasi selbst handschriftlich aus dem Vorstand des Gesangvereins. Er protokollierte eine Vorstandssitzung vom 2. September 1933. In der neuen Mannschaft des "Führers" konnte der gebürtige Schriesheimer und bis dahin angesehene Kaufmann nicht mehr mitarbeiten. Er war gewissenhaft, klug und ehrlich, ein glühender Nationalist und ehrlicher Bürger - aber Leopold Fuld war Jude im Nazi-Deutschland. Die Unterschrift unter das Protokolljahr 1933 liefert das letzte schriftliche Zeugnis vom Leben Leopold Fulds in den Reihen des Gesangvereins Liederkranz. Dann tauchte sein Name nicht mehr auf. Nie mehr.
1938 musste er gemeinsam mit seiner Frau und seiner siebenjährigen Tochter Margot vor Hitlers Schergen ins Ausland fliehen, nach Argentinien.

Margot Fuld hat sich jetzt auf eine weite Reise begeben, "im eigentlichen und im übertragenen Sinne", wie es Liederkranz-Vorstand Jürgen Betzin am Freitagabend beschrieb. Der Sängerchef wählte die richtigen Worte. Herzlich, freundlich, nicht übertrieben pathetisch. Nicht zu emotional, das hatte sich die 73-jährige Frau gewünscht. Viel zu oft wurde sie in den letzten Tagen von Gefühlen überwältigt, ließ ihren Tränen freien Lauf. "Ich möchte, dass Ihr singt, singt und singt", so hatte sie es sich gewünscht. Und der Liederkranz reagierte mit herzlichem Gesang.

Leopold Fuld gehörte im Liederkranz einen kleinen Kreis trinkfester und lustiger Gesellen an, dem "Club der Harmlosen". Die jungen Männer hatten ihr eigenes Lied: "Was die Welt morgen bringt". Viele der älteren Liederkranz-Sänger beherrschen es heute noch, ohne dass sie Text und Noten brauchen. Es ist lange nach dem Krieg noch eine Art Hymne geblieben. "Ein Studentenlied", wie Ehrenbürger und Liederkranz-Ehrenvorsitzender Peter Hartmann erklärte. Der fast 90-Jährige ist der einzige Zeitzeuge, der sich an das Jahr 1933 und an Leopold Fuld erinnern kann. "Ein Vorbildperson", sei der jüdische Liederkranz-Schriftführer gewesen. Und er, Hartmann, erinnere sich gut daran, wie stolz er war, ihm einmal beim Bierausschank helfen zu können.
Warum hat sich im Liederkranz 1933 niemand gewehrt, als Fuld nach dem Führerprinzip aus der Vorstandschaft einfach so getilgt wurde? "Das haben die halt so geschluckt", sagt Hartmann, der damals 19 Jahre alt war. "Gesetz war Gesetz, und als einzelner konnte man sowieso nichts machen".

Wenn dem Geschick gefällt,
sind wir in alle Welt morgen verstreut
Drum lasst und fröhlich sein,
Wirt hol' das Fass herein, Mädel schenk ein, schenk ein Heute ist heut.
(Lied des "Clubs der Harmlosen")

Aber offenbar hatte Leopold Fuld bis zu seiner Vertreibung 1938 innerhalb des Liederkranzes dennoch eine persönliche Obhut. Ebenso wie Karl Müller, sein Freund, dessen Tochter Gretel Metz jetzt Margot Fuld nach Schriesheim eingeladen hat. Die beiden alten Damen erlebten jetzt die Tage der bewegenden Erinnerung als enge Freundinnen.

Die Liederkranzler verdrängten keineswegs das Schicksal, das die Familie Fuld auch in die Geschichte des Vereins eingeprägt hat. Karl Morast sang ein Liebeslied, dem Ehrengast gewidmet. Sein Elternhaus war auch ihres. Die Familie Morast lebt heute in der Passein, in dem Anwesen, das die Fulds vor ihrer Vertreibung für einen Spottpreis verkaufen mussten. Wendelin Morast, ein Onkel, schrieb ab 1934 Leopold Fulds Protokollbücher weiter.

Und Vorstand Jürgen Betzin hatte sämtliche Protokollseiten, die Leopold Fuld zwischen 1931 und 1933 handschriftlich verfasste, kopiert und überreichte sie jetzt seiner Tochter, die schon seit zwei Wochen mit ihren beiden Enkelkindern in Schriesheim weilt. Die Chöre gaben sich Mühe, lustige und ermunternde Lieder zu singen - so hatte sich Margot Fuld das gewünscht. "Das hätte Deinem Vater gefallen, er war immer fröhlich, trotz allem", erinnerte sich Peter Hartmann. Bärbel Böhme las ein lustiges Gedicht über Mathaisemarkt-Treiben im Zehntkeller, und beim "Schriesemer Lied" begann Margot Fuld wie automatisch mitzuschunkeln.
Der Liederkranz und die Frau auf ihrer weiten Reise in die eigene Vergangenheit. Ein Verein, der sich bewusst ist, dass er nicht wieder gut machen kann, was auch in seinen Reihen für immer zerstört worden ist. Und eine Dame die weiß, dass dies auch gar nicht möglich ist. Aber Schriesheims ältester Gesangverein und Margot Fuld haben am Freitagabend einen Abend der Versöhnung gefeiert.

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Autor: Rhein-Neckar-Zeitung