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27.01.2018

Schriesheim: "Es gibt eine Distanz in der Gesellschaft"

Theologie-Professor Joachim Maier spricht im RNZ-Interview über Holocaust-Gedenken, Anfeindungen und den Wert der Erinnerung

Von Frederick Mersi

Schriesheim. Wenn am heutigen Samstag um 11 Uhr die Glocken beider Kirchen läuten, beginnt am Kriegerdenkmal in der Bismarckstraße das Gedenken an die Schriesheimer Opfer des Nationalsozialismus. Es war Theologie-Professor Joachim Maier, der erstmals zu der Veranstaltung am Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers in Auschwitz eingeladen und sie seitdem geleitet hat. "Als Initiative aus Bürgersinn." Auch heute wird er drei Schicksale vorstellen.

Herr Maier, sind Sie ein fröhlicher Mensch?

Ich bin ein zufriedener Mensch, manchmal auch fröhlich, ja. (lächelt)

Die Gedenkveranstaltungen am 27. Januar, bei denen Sie in der Öffentlichkeit stehen, sind ja sehr ernste Anlässe.

Wenn Ihre erste Frage darauf abzielte: Die Beschäftigung mit diesem Teil der Geschichte belastet mich nicht so, dass ich nicht mehr schlafen könnte. Es ist mir eine Genugtuung, dass ich zum Gedenken einen Beitrag leisten darf.

Warum engagieren Sie sich in diesem Bereich?

2006 wurde die Gedenkplatte mit 32 Namen der Schriesheimer Opfer des Nationalsozialismus am Volkstrauertag eingeweiht und der Öffentlichkeit übergeben. Nach zwei, drei Jahren dachte ich mir: Da tut sich ja gar nichts. Da ist dieser Gedenkstein, aber das nimmt die Öffentlichkeit nicht wirklich wahr. Da habe ich zu diesem 27. Januar eingeladen. Als Initiative aus Bürgersinn. Ich beanspruche da kein Monopol, aber ich mache es. Was mich zusätzlich bewogen hat, war eine Gedenkveranstaltung im Bundestag, an der ich teilnehmen durfte. Eine Stunde lang haben alle Abgeordneten und die Regierenden einer Überlebenden des Holocausts zugehört, still und aufmerksam, ohne das sofort wieder zu kommentieren. Das hat mich beeindruckt.

Die NS-Herrschaft war auch Thema in Ihrer Promotion. Gibt es für Ihre Beschäftigung damit auch einen persönlichen Grund?

Ich habe mich im Studium und während des Referendariats in Breisach mit der Geschichte der Juden dort beschäftigt. Dabei hat mich vor allem das Versagen der Kirche gegenüber den Juden bewegt, da hat sicher auch mein Professor in Religionspädagogik damals eine gewisse Rolle gespielt. Er hat gesagt, das Christentum müsse sich stärker bewusst werden, dass es vom Judentum herkommt. Wir waren dagegen in einer Abwehr des Judentums erzogen worden, es war verachtet in meiner Glaubensgeschichte. Im Studium habe ich dazu eine andere Perspektive gewonnen. Es gibt zu diesem Thema auch eine erst später offenbar gewordene Geschichte in meiner Familie, die ich aber hier nicht ausbreiten möchte.

Sind Sie seit dem Beginn Ihres Engagements auf diesem Gebiet auch angefeindet worden?

Das gab es vorübergehend, als meine Frau 2004 mit Schülern des Kurpfalz-Gymnasiums das Denkmal für die nach Gurs deportierten Juden erstellt hat. Ich habe dabei inhaltlich zugearbeitet, das Denkmal wurde dann auf dem jüdischen Friedhof aufgestellt. Wir haben über mehrere Wochen anonyme Anrufe bekommen, in denen uns gedroht wurde: Meine Frau solle das sein lassen, sonst käme sie auch in die Gaskammer. Wir haben nie herausgefunden, woher diese Anrufe kamen. Danach gab es solche Anfeindungen aber nicht mehr.

Erleben Sie in Schriesheim, dass sich Leute von diesem Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus lieber distanzieren?

Ja, das betrifft meine Frau und mich aber nicht allein, sondern die gesamte "Initiativgruppe Stolpersteine", bei der ich Mitglied bin. Dieses Vorhaben wurde damals unterschiedlich wahrgenommen, aber das waren keine Anfeindungen.

Was sagen Sie jemandem, der die Geschichte lieber ruhen lassen will?

Niemand wird gezwungen, sich diese Geschichte zu eigen zu machen oder sich damit zu belasten. Aber alle haben eine Herkunft, als Familie, aus einer Stadt, aus einer Gesellschaft, einem Volk. Vielen Menschen ist es wichtig, historische Gegenstände in Ehren zu halten: Das ist es wert, aufbewahrt und wertgeschätzt zu werden. Da sage ich: Die Geschichte von Menschen ist mindestens genauso viel wert. Die Darstellung der Opfer des NS-Regimes betrachte ich als Teil einer Gedächtnisarbeit für die Gesellschaft. Wer sein Gedächtnis verliert, wird orientierungslos. Das beobachten und merken wir im medizinischen Fall von Demenz. Das gilt auch für eine Gesellschaft.

Haben sich die Argumente in dieser Debatte in den vergangenen Jahrzehnten verändert?

Es ist eher so, dass da manchmal ein Schweigen ist. Es gibt wenig Kommunikation über unsichtbare Grenzen hinweg. Mit den Menschen, die 2006 Vorbehalte gegen die erwähnte Gedenktafel hatten oder bei der ersten Runde Stolpersteine 2010 ablehnend reagiert haben, hat eigentlich zu wenig Diskussion stattgefunden. Das wurde von uns zwar angeboten, aber nicht offensiv oder ausdauernd. Und von der anderen Seite wurde es nicht gewünscht. Es gibt diese Differenz, eine Distanz in der Gesellschaft, auch in Schriesheim. Eine neue Spaltung, wie sie manche befürchtet haben, hat es durch diese Art des Gedenkens aber nicht gegeben. Vielmehr zeigen die Anteilnahme bei der Gedenkveranstaltung und die große Unterstützung bei der Finanzierung der Stolpersteine eine wachsende Sympathie für das Erinnern und - viel wichtiger - eine überzeugte Empathie mit den Opfern.

Bisher haben Sie bei den Veranstaltungen am 27. Januar immer auf Einzelschicksale der Opfer aufmerksam gemacht. Worauf wird morgen der Schwerpunkt liegen?

Meine Absicht ist, im Laufe von zehn Jahren alle 32 Schriesheimer Opfer des NS-Regimes vorzustellen. Morgen ist es das sechste Mal, ich habe immer drei vorgestellt. Dieses Mal sind es drei Männer. Wer genau das ist, sage ich vorab nicht.

Warum nicht?

Ich möchte keine Werbung machen, sondern zum Gedenken einladen. Die Leute sollen nicht nur kommen, weil ihnen der Name eines Opfers bekannt vorkommt. Ich freue mich über jedes Interesse, die Teilnehmerzahl ist in den vergangenen Jahren auch stetig gewachsen. Aber der Wert einer öffentlichen Gedenkveranstaltung bemisst sich nicht darüber. Denn die Öffentlichkeit, das sind im Zweifelsfall auch nur Sie und ich.

Info: Öffentliches Gedenken an die Schriesheimer Opfer des Nationalsozialismus am heutigen Samstag, 11 Uhr, an der Kriegsopfergedenkstätte in der Bismarckstraße.

HINTERGRUND
Joachim Maier wurde am 26. Dezember 1945 in Miltenberg, Unterfranken, geboren. Er studierte Katholische Theologie und Geschichte in Freiburg und Würzburg. Nach seinem Referendariat im badischen Breisach lehrte er zwei Jahre am Fürstenberg-Gymnasium in Donaueschingen.

1980 zog er nach Schriesheim, 1982 promovierte er an der Freiburger Universität zum Thema "Schulkampf in Baden 1933 bis 1945 - Die Reaktion der katholischen Kirche auf die nationalsozialistische Schulpolitik". Ein Jahr später kam er als Studienrat für Katholische Theologie an die Pädagogische Hochschule (PH) in Heidelberg. Nach drei Jahren an der Technischen Universität Dresden kehrte Maier 1996 an die PH Heidelberg zurück, wo er bis zu seiner Pensionierung 2009 den Lehrstuhl für Katholische Theologie und Religionspädagogik innehatte.

Seit 2001 erforscht er die jüdische Geschichte der Stadt Schriesheim, Maier hat dazu bereits mehrere Beiträge im "Schriesheimer Jahrbuch" veröffentlicht. Im Oktober 2017 wurde sein Beitrag "Karl Heinz Klausmann - ein Schriesheimer in der Résistance" in Band 46 der Schriften zur politischen Landeskunde von der baden-württembergischen Landeszentrale für politische Bildung publiziert. (fjm)

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Autor: Rhein-Neckar-Zeitung