Schriesheim im Bild 2023

09.06.2018

Schriesheim: Weil Anderssein völlig in Ordnung ist

Dagmar Schultze hat eine Gruppe für Eltern mit "Special Needs"-Kindern organisiert - Trotz Inklusion fühlen sie sich oft wie Exoten

Von Marco Partner

Schriesheim. Sie tauschen sich aus. Reden. Nehmen die Empfindungen, Sorgen und Probleme der anderen ernst. Zeigen Verständnis, weil es ihnen ähnlich ergeht - und geben sich untereinander oft wertvolle Tipps mit auf den Weg. Alle sechs Wochen trifft sich die "Special Needs"-Elterngruppe. Ein offener Treff Erwachsener aus Schriesheim, Dossenheim und Umgebung, deren Kinder auf irgendeine Art im Alltag beeinträchtigt sind. Sehbehinderung, Autismus, körperliche Beeinträchtigungen: Die Entwicklungsstörungen oder Beeinträchtigungen mögen unterschiedlich sein, die Wellenlänge der Teilnehmer aber ist die gleiche. "Wir profitieren von den Erfahrungen des jeweils anderen und unterstützen uns gegenseitig", erklärt Dagmar Schultze bei einem Treffen am Freitag im Begegnungscafé "mittendrin".

Und wieder richtig mittendrin zu sein, nicht das Gefühl zu haben, an den Rand der Gesellschaft gedrückt zu werden und nur auf Unverständnis zu stoßen, darum geht es bei den Treffen auch. "Bei uns kann man als betroffene Eltern wieder Geduld und Gelassenheit lernen. Man fühlt sich unter seinesgleichen und geht mit gestärkten Nerven wieder raus", erläutert Schultze, die vor gut einem halben Jahr die Elterngruppe für Kinder mit besonderen Bedürfnissen initiierte.

Die Idee brachte sie aus Amerika mit. Vier Jahre lebte Schultze mit ihrer Familie in New York. "In den USA ist man in Sachen Inklusion eigentlich schon weiter, es gibt sogar ausgebildete Lehrer für Legastheniker", weiß sie. Doch als sie ihr Kind an einer Deutschen Internationalen Schule anmeldete, die weder dem deutschen noch dem amerikanischen System angehörte, fühlte sie sich zunächst alleingelassen. "Von der Schule gab es keinen Support und keine Therapien, wir hingen ziemlich in der Luft", erinnert sie sich. Doch schnell fand sie Eltern, denen es ähnlich erging. Man schloss sich zusammen - und nach kurzer Zeit wurden in der Schule ein Sozialpädagoge und ein Psychologe eingestellt, um die beeinträchtigten Kinder zu unterstützen.

Die Schule ist es auch, um die nun viele Themen der "Special Needs"-Gruppe kreisen. Schließlich besuchen die meisten Kinder der teilnehmenden Eltern die erste bis sechste Klasse. Eine Phase, in welcher viele Fragen aufkommen: Welche weiterführende Schule ist bei einem Kind mit Sehbehinderung zu empfehlen? Haben Schulgebäude einen Handlauf? Wie sind die Erfahrungen mit den Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ), wie mit den Regelklassen? Und was ist für das eigene Kind eigentlich förderlicher?

Von Beratungsstellen bis hin zur Freizeit- oder Ferienbetreuung für junge Rollstuhlfahrer reichen die Ratschläge und Erfahrungen. Aber auch über Mobbing wird offen geredet, oder es werden Sportangebote und Vereine empfohlen, bei denen sich nicht alles dem Leistungsgedanken unterordnen muss. "Manche Kinder werden eben nicht die großen Leistungsträger, aber sie spielen einfach unheimlich gern Fußball", sagt Schultze. Dann ist es ratsam, wenn eine andere Mutter oder Vater vielleicht einen Tipp hat.

Ein politisches Sprachrohr wolle man nicht sein, sondern sich vielmehr über den Alltag austauschen. Und gegebenenfalls auch mal Frust abbauen. "Durch unsere Treffen fühle ich mich nicht mehr als Exotin", sagt eine Mutter. Denn in der Schule stehe man mit einem beeinträchtigten Kind trotz Inklusion doch meist allein auf weiter Flur. "Es ist doch etwas anderes, mit Eltern zu sprechen, denen es ganz ähnlich geht. Auch wenn unsere Kinder unterschiedliche Beeinträchtigungen haben, gibt es viele gemeinsame Themen", betont sie.

Auch die eigene Erziehung werde bei den Treffen reflektiert. Manchmal ertappe man sich dabei, wie man selbst die gleiche gesellschaftlich genormte Haltung einnehme, an der man sich sonst stört. Wie man Druck aufbaut und versucht, die Kinder anzupassen.

"Hier merken wir wieder, dass Anderssein ganz okay ist, dass man sein Kind so lässt, wie es ist, und sich vor niemanden rechtfertigen muss", betont Schultze. "Es geht um eine Akzeptanz für das Anderssein."

HINTERGRUND
Die "Special Needs"-Elterngruppe ist ein Treffen für Eltern von Kindern mit besonderen Bedürfnissen. Unter "Besondere Bedürfnisse" versteht die Gruppe unter anderem Lern- und Teilleistungsstörungen (ADHS, Legasthenie), Entwicklungsstörungen (Autismus, Asperger), psychische Probleme, Hochbegabung und körperliche Beeinträchtigungen. Die Gruppe ist offen für alle Erwachsenen aus Schriesheim, Dossenheim und Umgebung. Eine Anmeldung ist nicht zwingend erforderlich.

Das nächste Treffen findet am Freitag, 13. Juli, um 9.30 Uhr im Begegnungszentrum und Café "mittendrin", Kirchstraße 4, in Schriesheim statt. Bei Fragen wendet man sich an Dagmar Schultze, E-Mail: dagmar.schultze@alteshaus.de. mpt

Copyright (c) rnz-online

Autor: Rhein-Neckar-Zeitung