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05.11.2018

Schriesheimer Inklusionslotsin: "Das waren mehr als Lippenbekenntnisse"

Schriesheimer Inklusionslotsin: "Das waren mehr als Lippenbekenntnisse"

Idil Reineke, langjährige Inklusionslotsin in Schriesheim, spricht über Erfolge, Herausforderungen und neue Aufgaben in Sachen Teilhabe

"Viele Einrichtungen waren schon sehr behindertenfreundlich eingestellt, ohne dass es ihnen bewusst war", sagt Idil Reineke über ihre Anfangszeit in Schriesheim. Foto: Dorn

Von Marco Partner

Schriesheim. Vier Jahre lang war sie als Inklusionslotsin tätig. Durch Gespräche, Projekte und Veranstaltungen warb Idil Reineke für Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit Behinderungen am öffentlichen Leben. Im September endete die durch die Aktion Mensch finanzierte Stelle der Arbeiterwohlfahrt (AWO). Reineke ist dennoch sicher, dass Schriesheim in Sachen Inklusion und Barrierefreiheit weiterhin den richtigen Weg geht - und ganz aus dem Blick hat Reineke die Weinstadt bei ihrer neuen Tätigkeit nicht verloren.

Frau Reineke, nach vier Jahren Schriesheim: Wie bewerten Sie Ihre Zeit in der Weinstadt?
Ich gehe natürlich mit dem berühmten lachenden und weinenden Auge. Nach vier Jahren habe ich das Gefühl, in Schriesheim jeden Stein zu kennen, viele Menschen sind mir sehr ans Herz gewachsen. Aber ich denke, gerade weil sich die Stadt und Vereine so für das Thema Inklusion geöffnet haben, wurde viel erreicht. Nicht nur die Auszeichnung als barrierefreie Stadt ist ein Beleg dafür. Sondern die vermeintlich kleinen Dinge, wie der Briefkasten am Schillerplatz. Daher ist mein Fazit durchweg positiv. Aber natürlich ist Inklusion ein andauernder Prozess.

Hatten Sie nicht die Hoffnung, dass es auch für Sie dort weitergeht?
Es war von Anfang an klar, dass das Projekt von der Aktion Mensch auf vier Jahre angelegt ist. Der Sinn lag ja darin, wichtige Impulse zu geben, Prozesse in Gang zu setzten, die dann aber von den jeweiligen Einrichtungen selbstständig weitergeführt werden. Seien es Arbeitgeber, Vereine oder die Stadt.
Bürgermeister Hansjörg Höfer sagte bei meiner Verabschiedung, dass es eine rasche Entwicklung war. Aber das war nur möglich, weil sich Schriesheim für das Thema Inklusion gleich so aufgeschlossen zeigte. Ob Arbeit, Wohnen oder Freizeit: Teilhabemöglichkeiten und Barrierefreiheit werden von vielen Seiten beleuchtet. Mit Karin Reichel gibt es weiterhin eine feste Ansprechpartnerin - und auch der gegründete Behindertenbeirat wird fortbestehen.

Können Sie sich noch an Ihre ersten Tage in Schriesheim erinnern?
Ja, am Anfang habe ich viel herumtelefoniert - und dann die ersten Besuche unternommen. Viele Einrichtungen waren schon sehr behindertenfreundlich eingestellt, ohne dass es ihnen bewusst war. Genau darum geht es, das Thema Inklusion in die Köpfe der Menschen zu bringen, aber ohne etwas aufzudrücken. Denn eine Einstellung ändert sich nur von innen heraus. Das geht nicht ohne Druck, aber mit etwas Glück wird es zum Selbstläufer. Der erste Verein, mit dem eine Kooperationsvereinbarung geschlossen werden konnte, war der Push-Verein.

Es folgten weitere Kooperationspartner.
Überraschend viele. Catering Keller stellte einen jungen Mann mit Handicap aus Afghanistan ein, und auch die Bäckerei Heiß entschied sich, einen Menschen mit Behinderung einzustellen. Das waren also mehr als Lippenbekenntnisse, das freut mich unheimlich. Hinzu kamen Vereine wie der TV 1883, die mit Christiane Arras eine feste Ansprechpartnerin haben. So hat Inklusion ein Gesicht, was sehr wichtig ist. Der TV Altenbach bietet Sportpaten an: Eine wunderbare Lösung, um Menschen zu inkludieren, die es sonst vielleicht nicht schaffen würden.

Geht es nicht darum, Inklusion auch von einer positiven Seite zu zeigen?
Genau, das ist ein wichtiger Schlüssel, um Menschen den Zugang zu erleichtern. Durch Lesungen oder kleine Konzertveranstaltungen im Begegnungszentrum "mittendrin" konnten wir das Thema tatsächlich sehr positiv und niederschwellig besetzen. Auch die Stadtbibliothek bot Schulungen an, und prompt war das Gymnasium beteiligt. So sieht man, welche Kreise Inklusion ziehen kann.

Was haben Sie persönlich während Ihrer Zeit in Schriesheim gelernt?
Ich habe für mich gelernt, dass man keine pauschalen Lösungen anbieten kann, nicht in Schubladen zu denken. Jeder Fall, jede Einrichtung ist anders. Ehrlich gesagt, hatte auch ich vorher keine so starken Berührungspunkte mit Behinderungen und musste erst reinwachsen. Es braucht viel Zeit und Geduld, Inklusion ist ein langsamer Prozess und kann nur nachhaltig funktionieren. Es ist so wie mit dem Umweltbewusstsein: Ich kann mich erinnern, dass bereits in den 90er-Jahren über Plastikmüll diskutiert wurde. Aber erst jetzt findet ein Umdenken statt. Das geht eben nicht von heute auf morgen. Aber Hauptsache, es geht in die richtige Richtung.

Was sind Ihre kommenden Aufgaben?
Ich möchte ein Stück weit meine Erfahrungen aus Schriesheim in andere Städte transportieren. Wir haben geschaut, wo in der Region weitere, wichtige Impulse für die Inklusion angestoßen werden können und sind auf Leimen gestoßen. Eigentlich sollte ich dort das Inklusionsprojekt leiten. Da meine Chefin aber im Mutterschutz ist, leite ich nun die Behindertenhilfe Wohnen im Rhein-Neckar-Kreis. Somit bin ich in gewisser Weise auch weiterhin mit Schriesheim verbunden.

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Autor: Rhein-Neckar-Zeitung