Schriesheim im Bild 2023

12.06.2019

Wohlfühl-Nachmittage für Demenzkranke

Beim "Treffpunkt Nachlese" erleben Demenzkranke schöne Stunden - Das Thema ist auf dem Heimweg oft wieder vergessen

Von Frederick Mersi

Schriesheim. Jetzt fällt es Elisabeth wieder ein. "Wir sind immer an die Nordsee gefahren." Mit den Kindern, weil die Luft dort so gut war. "Mein Sohn hatte asthmatische Bronchitis." Elisabeth ahmt die Geräusche seiner Atemnot nach. "Ach Gott", sagt Gertrud. Sie sitzt an diesem Freitagnachmittag mit Elisabeth und vier weiteren Frauen am Tisch. "Aber dort ist es immer besser geworden", sagt Elisabeth. Gertrud atmet beruhigt durch. Was beide vergessen haben: Elisabeth, die gern singt, lacht und regelmäßig zum Aqua-Jogging geht, hat die Nordsee-Erinnerung gerade zum sechsten Mal geteilt - in 40 Minuten.

Die sechs Frauen sitzen am Tisch des Demenztreffs der Kirchlichen Sozialstation Bergstraße-Steinachtal, sie kommen aus Schriesheim, Hirschberg, Schönau und Wilhelmsfeld. Heute sprechen sie über Reisen und Urlaub, auch wenn der Treffpunkt, das Evangelische Gemeindehaus in der Kurpfalzstraße, kaum weniger an Sandstrände oder Alpenwanderungen denken lassen könnte: ein eingeschossiger Bungalow, derzeit umgeben von der Baustelle eines Kindergarten-Neubaus, weitgehend zweckmäßig eingerichtet.

Heike Heinemann leitet den Demenztreff mit Rosi Meißner als ehrenamtlicher Assistentin seit der Gründung im April 2013, freitags in Schriesheim, montags im Hirschberger Ortsteil Leutershausen. Mehr als zwei Tische, acht Stühle und ihr vorbereitetes Material braucht die Krankenschwester nicht, um ihre Gruppe auf Reisen zu schicken.

Vorher gibt es etwas zu trinken, es ist heiß an diesem Freitagnachmittag. Die Gruppe erhebt die Gläser, Zuprosten ist eines ihrer Rituale - genau wie die Lieder am Anfang und am Ende der drei Stunden im Evangelischen Gemeindehaus. Heute ist es "Die Gedanken sind frei". Elisabeth und Gertrud singen mit, Gertrud mit geschlossenen Augen. Sie sind textsicher. Gertrud besucht beide Demenztreffs. "So oft ich kann." Sie lächelt.

Dann geht es ans Kofferpacken. Heinemann hat eine Reisetasche dabei, nimmt Gegenstände vom Tisch auf und fragt, ob diese mit in den Urlaub sollten. Reiseführer? Ja. Wanderschuhe? Ja. Sonnencreme? Auf jeden Fall. Heinemann reicht die Flasche herum, die Damen riechen daran. Elisabeth hat einen Reisekatalog für Norddeutschland vor sich liegen und erzählt wieder von der asthmatischen Bronchitis ihres Sohnes. Sie seien deswegen immer an die Nordsee gefahren, in der Nacht habe er oft Anfälle gehabt. "Und die Atemnot", sagt sie und ahmt die Geräusche nach.

Heinemann weist ihre Damen nicht darauf hin, dass sie sich wiederholen. "Der Wohlfühl-Charakter steht hier über allem", sagt sie. "Der Alltag mit Demenz ist stressig genug." Das Kurzzeitgedächtnis wird schwächer, die Fähigkeiten bei der Koordination nehmen ab. Gleichzeitig hoffen die Erkrankten und ihre Angehörigen, die Auswirkungen der Demenz beschränken zu können, in dem sie sich nur genug anstrengen. Oft enden diese Bemühungen im Streit. "Bei uns geht es nicht um Trainingseffekte, sondern darum, Ressourcen zu wecken", sagt Heinemann. "Am Ende soll das Gefühl stehen: Ich habe das hinbekommen."

Heinemann erzählt der Damenrunde auch eigene Reisegeschichten - vom Stau auf der Autobahn, quengelnden Kindern und dem Streit darum, wie viel Gepäck die Familie mitnehmen soll. Es sind Anknüpfungspunkte, die Erinnerungen wecken. Irmgard zum Beispiel lächelt beim Anblick eines VW Käfer in Spielzeuggröße und erzählt, dass sie mit ihren Eltern früher im Goggomobil gefahren sei. Erika kann sich noch an ihre erste Auslandsreise erinnern, in die Niederlande. "Wir sind sonst nicht viel herumgekommen."

Dazu gibt es Kekse und Salzgebäck, immer wieder ein "Prost", Gedichte, Sprichwörter und Lieder. "Die brauche ich nicht", sagt Hannelore bei jeder Liedtext-Kopie und reicht sie weiter. Ob "Wohl auf dem schönen Berge", "Tulpen aus Amsterdam" oder "Wem Gott will rechte Gunst erweisen": Hannelore kann sie auswendig singen, mit glasklarer Stimme. "Unsere Nachtigall", sagt Heinemann und lacht. So reist die Gruppe im Evangelischen Gemeindehaus in Gedanken nach Mailand, Mannheim oder wieder an die Nordsee, wenn Elisabeth die Geschichte ihres kranken Sohnes erzählt.

Es ist eine fröhliche Runde, beim Erzählen wie beim Bewegen. Im Stuhlkreis werfen sich die Frauen den Ball zu, schwingen Tücher oder lassen einen Luftballon auf einem Sprungtuch hüpfen. "Donau-Schifffahrt" nennt Heinemann das. Fliegt ein Ball oder ein Luftballon ins Gesicht, wird gelacht, dann geholfen. Die Runde muss keine Erwartungen erfüllen. Nach dem Sport folgt eine Entspannungsphase mit Massagebällen.

Schnell sind die drei Stunden vorbei, vor dem Abschlusslied dürfen die Frauen noch Muscheln in einem Sandbecken ausgraben. Sie haben vom Reisen gehört, es gesehen, gerochen und gefühlt. Als die Angehörigen von Elisabeth, Gertrud, Irmgard und Hannelore zum Abholen kommen, bricht ein Hitzegewitter los. Heinemann begleitet Gertrud mit einem Schirm zum Auto, während Rosi Meißner im Gemeindehaus aufräumt. "Einige werden schon auf der Heimfahrt das Thema des heutigen Nachmittags wieder vergessen haben", sagt Heinemann. "Wenn man sie dann fragt, um was es ging, sagen sie, dass es schön war."

Heinemann denkt sich immer wieder neue Aspekte aus, die Struktur der Nachmittage ist seit sechs Jahren aber die gleiche. "Das gibt Sicherheit", sagt Heinemann. Auch wenn die 58-Jährige die Krankheit deutlich besser versteht als viele andere, hat sie durch ihre Arbeit die Angst vor Demenz nicht verloren. "Wenn man sieht, wie der Geist abbaut, bekommt man enormen Respekt davor", sagt Rosi Meißner. Dennoch seien die Stunden im Demenztreff bereichernd, immer wieder würden sie neue Sprichwörter, alte Begriffe oder Traditionen lernen. "Das sind die ehrlichsten Menschen hier", sagt Rosi Meißner. "Ich hätte nicht gedacht, dass mir das so viel gibt."

So trifft sich die Damenrunde, in der noch zwei Plätze - ausdrücklich auch für Männer - frei sind, weiterhin freitagnachmittags im Bungalow des Evangelischen Gemeindehauses. Alle sechs gehen an diesem Freitagabend fröhlich nach Hause - nur können sich einige nicht mehr genau erinnern, warum.

Hintergrund
Der "Treffpunkt Nachlese" ist ein niederschwelliges Betreuungsangebot für bis zu sechs Demenzkranke, freitags von 15 bis 18 Uhr im Gemeindehaus Kurpfalzstraße. Pro Teilnehmer und Nachmittag kostet der Treff 25 Euro, das Angebot fällt unter die im Sozialgesetzbuch aufgeführten Entlastungsleistungen. Mehr Informationen im Internet unter www.kisos.de. (RNZ)

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Autor: Rhein-Neckar-Zeitung