Schriesheim im Bild 2023

10.03.2020

Keine Zeit für "Pillepalle pur"

Keine Zeit für "Pillepalle pur"

Ex-EU-Kommissar Günther Oettinger verbreitet beim Mathaisemarkt Krisenstimmung – Es tobe ein "Kampf der Systeme"

Warnt auch vor einer drohenden Finanzkrise: Günther Oettinger (r.). Foto: Peter Dorn

Von Sören S. Sgries

Schriesheim. Günther Oettinger spart nicht am süßen Lob, mit dem er seine Gastgeber umgarnt. Die Stadt Schriesheim sei höchst attraktiv, die Atmosphäre fantastisch, der Mittelstand von unschätzbarer Bedeutung, so schmeichelt der frühere EU-Kommissar und einstige baden-württembergische Ministerpräsident seinen Zuhörern bei der traditionellen Mittelstandskundgebung des "Bunds der Selbständigen". Nur inhaltlich, da mag er nicht auf die Linie von Verbandspräsident Günther Hieber einsteigen. Genau genommen lässt der 66-Jährige am Montag seinen Vorredner vor rund 500 Gästen im Mathaisemarkt-Festzelt ziemlich gnadenlos auflaufen – wenn auch geschickt verpackt.

Wie das? Nun, Hieber hatte in seiner knappen Rede die drei wichtige Probleme umrissen, die er selbst für den Mittelstand derzeit sieht. Die Bonpflicht. Den Fachkräftemangel. Die Nöte der Landwirte. Doch Oettinger geht darauf mit keinem Wort ein. Vielleicht, weil er das alles für "Pillepalle" hält? Gar für "Pillepalle pur", wie es – so sein Vorwurf – derzeit zu oft im Bundestag wie in den Ländern diskutiert werde?

Für den erfahrenen CDU-Politiker jedenfalls scheint klar zu sein, dass er sich mit so etwas nicht mehr abgeben möchte. Stattdessen sieht er sich als Mahner, als Warner, als jemanden, der auch hier, im beschaulichen Schriesheim, mit einer "Ruckrede" den Ernst der globalen Lage ins Bewusstsein rufen möchte.

Oettingers Grundthese: "Wir leben in einem Wettbewerb der Werteordnungen, einem Kampf der Systeme." Auf der einen Seite stehen die europäischen Werte, die Demokratie, der Rechtsstaat, die liberale Gesellschaft. Doch der Siegeszug dieser Ideen sei in Gefahr – "andere Ordnungen und Unordnung" seien auf dem Vormarsch. Im Krieg in Syrien beispielsweise. In der Türkei. Auch einige Tweets aus dem Weißen Haus läsen sich doch, so der Blick in die USA, "autokratisch". Und dann sei da noch China. Technologisch in vielen Bereichen schon jetzt überlegen ("Wir brauchen Huawei"), mit einem genauen Plan, wo die Volksrepublik bis 2050 stehen soll.

Wie damit umzugehen ist, darüber muss der überzeugte Europäer nicht lange nachdenken: Nur als europäisches Team könne man in diesem Kampf bestehen. Das einzelne Land werde scheitern. So wagte Donald Trump es bisher nur nicht, in den offenen, schonungslosen Handelskrieg mit Deutschland einzutreten, weil die US-Wirtschaft den EU-Binnenmarkt nicht verlieren wolle. Allein dieser sei der "Schutzschild" für die deutsche Exportindustrie.

Oettingers derbes Beispiel, um das anschaulich zu machen: "Zwerge stellt man normalerweise im Vorgarten auf. Die Hunde pinkeln sie an." Doch Zwerge im Team könnten durchaus einen Riesen bändigen.

Bisher sehe er aber nicht viel, was darauf hindeute, dass man sich dieser Lage wirklich bewusst sei. "Deutschland ist noch immer ein bisschen im Paradies unterwegs", schimpft er. Man verliere sich in "Pillepalle pur". In der Außenpolitik sei Europa gar "arglos, harmlos und wehrlos", was jemandem wie Russlands Präsidenten Wladimir Putin in die Karten spiele.

Übrigens ist natürlich auch das Coronavirus Thema in Schriesheim. Und auch hier neigt der Redner eher zu Alarmismus als zur Beschwichtigung. Noch sei gar nicht klar, wie schwer die Krankheit die Wirtschaft treffe, so seine These. Sechs Wochen brauche ein Frachtschiff von China aus in die europäischen Häfen, rechnet Oettinger vor. Die wirklichen Lieferengpässe stünden also erst noch bevor. Und das bei sowieso angeschlagener Wirtschaft. "Deutschland schrumpft in diesem Jahr", wagt er die Prognose. Und im Vorgespräch, noch nicht auf der Festzeltbühne, geht er sogar noch weiter: Wie 2008 könne es noch zu einer Bankenkrise kommen, so seine Befürchtung. Weil nämlich dieses Mal kriselnde Unternehmen die Banken mit in den Abgrund ziehen könnten.

Bemerkenswert dabei: So ernst seine Analyse im Grundsatz ausfällt, so entspannt bleibt er im Persönlichen. Ob er je daran gedacht habe, dem Festzelt fernzubleiben? Höchstens als 86-Jähriger, schmunzelt er. Und verrät, wie er sich schützen will: "Ich halte einen Abstand von mindestens zehn Zentimetern und trinke ein Glas Madonnenberg mehr als sonst."

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Autor: Rhein-Neckar-Zeitung