Schriesheim im Bild 2023

22.10.2020

"Freiwillig sind die Juden bis 1939 nicht weggegangen"

Professor Joachim Maier über das jüdische Leben in Schriesheim und die schwierige Gedenkarbeit.

Von Micha Hörnle

Schriesheim. Professor Joachim Maier gilt als der unbestrittene Experte jüdischen Lebens in Schriesheim. Zum 80. Jahrestag der Deportation der badischen und pfälzischen Juden ins südfranzösische Lager Gurs spricht der 74-jährige Theologe über seine Forschungsergebnisse.

Wie groß war, vielleicht im Vergleich zu den Nachbargemeinden, die jüdische Gemeinde in Schriesheim? Die Zahl der Juden in der Stadt war von ihrem Höchststand 1862 mit 132 Personen auf nur noch 45 im Jahr 1933 gesunken.
45 Juden in Schriesheim entsprachen 1933 einem Anteil von etwa einem Prozent der gesamten Einwohnerzahl. 1925 wurden unter knapp 4000 Einwohnern 38 Juden gezählt. Zum Vergleich: In Ladenburg lebten 1933 88 Juden, das entsprach 1,75 Prozent von etwa 5000 Einwohnern.

Wie rege war das jüdische Leben im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts? Zumindest gab es eine Synagoge, aber offenbar keinen jüdischen Verein.
Neben der Synagoge gab es bis etwa 1920 ein Gemeindehaus mit Lehrer- und Vorsängerwohnung und Religionsschule für die jüdischen Kinder und seit 1874 einen eigenen Jüdischen Friedhof; seit 1853 existierte die mit 700 Gulden ausgestattete Simon Oppenheimer’sche Stiftung. Vom erwarteten Zinsertrag wurden zunächst jährlich 30 Gulden zur Errichtung eines Frauenbades und drei beziehungsweise zwei Gulden für den Rabbiner und Vorsänger verwendet. Nach Fertigstellung des Frauenbades wurden die 30 Gulden jährlich an Pessach und am jüdischen Neujahrsfest an arme Israeliten verteilt. Die Stiftung wurde 1927 in Folge der Inflation aufgelöst.

Was weiß man darüber, wie das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden im Ort vor der Machtübernahme der Nazis war? War es wirklich so harmonisch, wie später immer behauptet wurde?
Zum Teil war es ausgeglichen, es gab aber auch Abgrenzung und Diskriminierung.

Wie gut waren die Juden "integriert"?
Der Begriff "Integration" ist zwar üblich – ich verwende ihn selbst in meinem Buch – für die soziologische Entwicklung der Zeit. Er legt dennoch die Vorstellung nahe, dass andere – hier die Juden – "so werden wie wir". Gemeint ist eher die bürgerliche Gleichstellung. Sie brachte für Juden auch in Schriesheim Fortschritte: Es gab jüdische Mitglieder im Liederkranz, im Turn- oder Sportverein, im Odenwaldklub, bei der Feuerwehr, im Verkehrs- und im Militärverein. Daher sind auch Militärdienst und Teilnahmen am Deutsch-Französischen Krieg und am Ersten Weltkrieg nachgewiesen – und jüdische Gefallene. Im politischen Leben waren Juden auch gewählte Gemeindeverordnete im Bürgerausschuss.

Was änderte sich für die Juden in Schriesheim nach 1933? Gab es so etwas wie eine Art Solidarität im damaligen Dorf? Oder wurden sie aus der "Volksgemeinschaft" ausgeschlossen?
Es gab Solidarität von einzelnen, die jüdischen Familien nahestanden, sie unterstützten oder bei ihnen kauften. Spätestens ab 1935 wurde das zunehmend erschwert. Wo Juden 1933 noch Mitglieder in Vereinen waren, verschwanden ihre Namen aus den Mitgliederlisten. Jüdische Kinder wurden 1937 aus der Schule ausgeschlossen; sie mussten die jüdische Schulabteilung in der früheren Pestalozzischule Heidelberg besuchen. Der "legitimierte Raub" an jüdischem Vermögen zerstörte die bürgerliche Existenz der Juden auch in Schriesheim: Schon seit 1937 wurde der jüdische Immobilienbesitz, also Äcker, Gärten, Weinberge, Wohn- und Geschäftshäuser, nach und nach "arisiert". Nach der Reichspogromnacht wurden in fünf Raten insgesamt 25 Prozent des noch vorhandenen Vermögens als "Judenvermögensabgabe" eingezogen.

Gab es in Schriesheim Pogrome?
"Pogrom" bedeutet Verwüstung, Zerstörung. Am 10. November 1938 wurde hier die Synagoge geplündert, die Inneneinrichtung zerstört, die Bücher verbrannt und Thorarollen in die Müllgrube geworfen.

Welche Rolle spielte das Rathaus unter Bürgermeister Fritz Urban?
Urban war zugleich Ortsgruppenleiter der Partei. Es war ihm daran gelegen, die verordneten Maßnahmen umzusetzen. Als 1939 Julius und Mina Fuld als letzte jüdische Einwohner den Ort verließen, meldete er dem Landrat zufrieden, dass Schriesheim nunmehr "judenfrei" sei. Zu Urban verweise ich auf den Beitrag von Ursula Abele im Schriesheimer Jahrbuch 2002.

Wie ist es zu erklären, dass zum Zeitpunkt der Deportation der badischen und pfälzischen Juden nach Gurs kein Jude mehr in Schriesheim lebte?
Freiwillig sind sie nicht gegangen. Die jüdischen Familien in Schriesheim hatten keine Lebensgrundlage und daher keine Zukunft mehr.

Die Aufarbeitung des jüdischen Lebens in Schriesheim kam verhältnismäßig spät: 1988 eine Gedenkplakette an der ehemaligen Synagoge, ihr erster Artikel 2003 im Jahrbuch, dann die Stolpersteine ab 2012. Wie erklären Sie sich das?
Hermann Brunn hat 1964 einen knappen Überblick gegeben; er stand in Kontakt zu jüdischen Schriesheimern, die in die USA geflohen waren und hatte weiteres Material gesammelt. Der schwierige Weg zur einfachen Gedenkplatte 1988 an der Synagoge ist mir bis heute präsent – schließlich hatte ich den Antrag der Kirchengemeinden auf den Weg gebracht. 1997 verfasste Susanne Strauß ihre Examensarbeit zur Geschichte der Schriesheimer Juden. Einen "Schub" gab es ab 2001/2002, begleitet durch die Stadtarchivarin Ursula Abele, zusammen mit Hansjörg Höfer und Monika Stärker-Weineck. An "Gedenkarbeit" hat Schriesheim manches aufzuweisen. So steht zum Beispiel das Mahnmal auf dem Jüdischen Friedhof für die 1940 nach Gurs deportierten jüdischen Schriesheimer seit 2004 – in Heidelberg kam es 2014.

Bestehen heute noch Verbindungen zu Nachkommen von Schriesheimer Juden? Haben die noch eine Verbindung hierher?
Ja.

Sie haben in Ihrem vor eineinhalb Jahren vorgestellten Erinnerungsbuch 95 Einzelschicksale von NS-Opfern der Stadt nachgezeichnet. Gibt es eines, das Sie besonders berührt hat?
Eigentlich jedes. Dennoch: Bleibend berührt und begleitet mich das Schicksal der Mathilde Strauss, geborene Oppenheimer – in dem Haus geboren, das später Jüdisches Gemeindehaus wurde, nach Mannheim verzogen und 1940 nach Gurs deportiert: Sie hätte durch Hilfe von Verwandten wohl gerettet werden können, aber sie konnte sich nicht vorstellen, im hohen Alter noch nach Amerika zu fliehen – sie wurde von Gurs nach Auschwitz deportiert und ermordet. Zu ihrem Gedenken und zu dem der anderen acht jüdischen Schriesheimer, die vor 80 Jahren nach Gurs deportiert wurden, haben meine Frau und ich am Dienstagmorgen am Mahnmal auf dem Jüdischen Friedhof eine Rose niedergelegt.

Info: Am heutigen Donnerstag hält Prof. Joachim Maier den Vortrag "Zum 80. Jahrestag: Die Deportation der badischen Juden nach Gurs und ihre Schriesheimer Opfer", VHS-Haus, Vortragssaal, 19.30 Uhr, Eintritt: Euro.

Hintergrund: Die letzten Juden in Schriesheim

Erst geehrt, dann verfemt: Das Schicksal von Julius und Mina Fuld

Schriesheim. (hö) Mina und Julius Fuld waren die letzten Juden, die 1939 in Schriesheim lebten. Ihr Schicksal hat Prof. Joachim Maier in seinem Erinnerungsbuch on 2019 nachgezeichnet. Julius Fuld, geboren 1871, führte ab 1900 mit Ferdinand Marx eine Viehhandlung. Im Jahr zuvor hatte er Marx’ Schwester Mina geheiratet. Sie bekamen zwei Kinder, Leopold und Flora, 1913 zogen sie in ihr eigenes Haus in der Passein 1. Fuld war ein mustergültiger Bürger: Er gehörte eine Weile dem Bürgerausschuss, der damaligen Form des Gemeinderates, an, er war Mitglied im Militärverein, im GV 1841 Liederkranz – hier wurde er sogar 1932 Ehrenmitglied – und im TV 1883. Er diente im Ersten Weltkrieg und wurde dafür ausgezeichnet. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 änderte sich schlagartig alles: Sein Geschäft wurde boykottiert, auch der Liederkranz führte ihn nicht mehr in seiner Mitgliederliste. Dabei galt Fuld auch beim NS-Bürgermeister Fritz Urban als unbescholten – zumindest gab er das an, als 1934 die NS-Behörden die jüdischen Viehhändler überprüften. 1936 baten Fuld und Marx beim Finanzamt Weinheim darum, ihnen die Gewerbesteuer zu reduzieren, weil die Geschäfte so schlecht liefen. Doch Urban bestand auf dem Gemeindeanteil dieser Steuer und lehnte den Antrag ab. 1938 wurde die Firma aufgegeben, fast zeitgleich verkauften die Fulds ihr Haus – von dem Geld sollten sie kaum etwas haben, 1942 zog es der Staat ein. Bei der Pogromnacht im November 1938 musste das Ehepaar Fuld die Zerstörung der Schriesheimer Synagoge erleben – zu diesem Zeitpunkt waren sie die letzten Schriesheimer Juden. Ihr Sohn Leopold war im März 1938 mit seiner Familie nach Argentinien emigriert, ihre Tochter Flora lebte in den USA.

Am 20. September 1939 meldeten sie sich nach Feudenheim ab. Bürgermeister Urban erstattete dem Bezirksamt Mannheim zufrieden Bericht: "Mit diesem Abzug ist Schriesheim nunmehr judenfrei." 1940 wurde das Ehepaar nach Gurs deportiert, dort erkrankte Julius Fuld schwer. Im Dezember 1941 gelang beiden die rettende Flucht in die USA, zur Familie ihrer Tochter. Er starb 1943 mit 72 Jahren in New York, seine Frau 1959 im Alter von 87 Jahren. Auch sie hatte durch die Lagerhaft bleibende gesundheitliche Schäden erlitten.

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Autor: Rhein-Neckar-Zeitung