Schriesheim im Bild 2023

29.11.2004

Der Tanz um das verlorene Wildschwein

Die zweite revierübergreifende Drückjad im vorderen Odenwald wurde wieder von Schriesheim aus organisiert und war noch erfolgreicher

Schriesheim/Bergstraße. 300 Jäger auf einer Waldfläche von rund 10 000 Hektar, dazu noch jeweils circa 50 "Treiber" und genauso viele Jagdhunde. Es war das große Jagen am Samstag fast im gesamten vorderen Odenwald zwischen Neckartal und hessischer Landesgrenze. Die Keimzelle dieser bislang größten revierübergreifenden Drückjagd liegt allerdings in Schriesheim. Dort hat Karl Balmert, der Hegeringleiter des Bezirks Weinheim/Schriesheim, sein Revier. Und dort liefen am Samstag die Fäden der Organisation zusammen. Alles klappte wie am Schnürchen, stellte RNZ-Redakteur Roland Kern fest, der sich als "Treiber" an der Jagd beteiligte. Sein Erlebnisbericht:

Der Nebel fließt morgens um halb neun wie eine dicke Erbsensuppe um die Wipfel der Bäume. Rund 30 Jäger aus der ganzen Region versammeln sich am Eingang ins Weite Tal, die Hüte tief im Gesicht, die Krägen der Mäntel hochgeschlagen. Der Regen lässt langsam nach, aber die feuchte Kälte krabbelt wie Ameisen an den Beinen hoch. Werner Schmitt begrüßt die Waidmänner, die er eingeladen hat. Er ist der Pächter des Jagdbogens, ihm werden sämtliche erlegten Tiere des Tages gehören. Das ist der Lohn für die ständige kostspielige Hege des Reviers und der Ausgleich für manchen Wildschaden, den die Förster, Winzer oder Landwirte einfordern.

Die klaren Regeln einer Jagd geben Schmitt und sein Jagdpartner Karl Balmert, der Hegeringleiter, vor. Nur Wildschweine unter 40 Kilo dürfen anvisiert werden, keine Leitbachen. Ein streunender Keiler mit geschätzten 110 Kilo Lebendgewicht ist allerdings Freiwild - der Kerl richtet nur Schaden an und "beschlägt", was nicht bei drei auf die Bäume kommt. "Beschlagen" - so nennt der Jäger den schweinischen Geschlechtsakt.

Aufsitzen, so heißt es gegen neun Uhr am Waldrand und Eingang ins "Weite Tal". Die Jäger fahren in ihren Geländewagen in den Wald hinein, manche ziehen Anhänger hinter sich her, auf denen wiederum Schützen und Treiber hocken. Diese Szenen ereignen sich jetzt überall zwischen Neckar und hessischer Grenze. Etwa 30 Reviere sind in die große Drückjagd eingebunden. Anders sind die Wildschweine kaum effektiv zu bejagen. Die Schwarzkittel sind ausgerechnet nachtaktiv und ausgebufft wie die Sau.

Absitzen, so heißt es im Verlauf der nächsten halben Stunde. Nach und nach lässt Karl Balmert die Jäger an Plätzen und Stellen heraus, die er zuvor ausgesucht hat. Dort werden die Schützen nun sitzen, bis sie ein Tier sehen, das zum Abschuss freigegeben ist. Man wünscht sich ein knappes "Waidmannsheil". Manche werden die nächsten sechs Stunden keine Sau sehen, das wissen sie auch. Wer im Einklang mit der Natur jagen will, akzeptiert das. Die Hinfahrt auf dem Anhänger haben die Jäger zum Plaudern benutzt. Alle kennen sich, nennen sich beim Vornamen. Eine eingeschworene Gesellschaft.

Bessy hält es nicht mehr aus. Es ist kurz vor zehn Uhr und Balmert hat seine Jäger überall "abgestellt", wie es im Jargon der Jäger heißt. Nun nehmen die Treiber ihren Job auf. Ihre Aufgabe ist es, die Wildschweine, die tagsüber in den dunklen und zugewucherten Bereichen des Waldes liegen, aus diesen Dickungen zu treiben - möglichst dem nächsten Jäger vor die Flinte. Gute Treiber sind so gut wie ihre Hunde. Balmert hat einen klasse Hund. Bessy ist nur knapp kniehoch und eigentlich eine Seele von einem Wauwau mit treuen dunklen Augen. Normalerweise schläft sie morgens gerne etwas länger. Aber zum Jagen muss sie keiner tragen. Als der Hegering-Chef seinen Kofferraum nur um wenige Zentimeter öffnet, witscht Bessy heraus und rast bereits laut kläffend in eine Tannen-Dickung hinein. Zwei Minuten später peitscht ein Schuss durch den Wald, er muss von einem Jäger aus unserem Revier stammen. "Es geht los", raunt Balmert und hat seiner vorwitzigen Bessy schon wieder verziehen.

Ein Hund treibt selten alleine. Bessy hat Verstärkung bekommen. Cora, eine siebenjährige Appenzeller-Hündin und Ronja, eine erst dreijährige Hündin der Rasse "Bayerischer Gebirgsschweißhund". Beide gehören Harry Tanz, einem der erfahrensten und gewieftesten Jäger des Odenwaldes. Er gehört heute mit seiner burschikosen Tochter Corinna zum Treiber-Team. Dazu später. Ronjas Rasse weist übrigens keineswegs auf ein übermäßiges Schwitzen hin. Auch Wildtiere schwitzen nicht. Wenn der Jäger von Schweiß redet, meint er das Blut. Und Ronja ist Spezialistin, blutigen Fährten zu folgen. Deshalb Gebirgsschweißhund. Artig muss sie an der Leine bleiben, während Bessy und Cora durch den Wald wetzen. Ihre Aufgabe kommt noch.

Harry und Corinna Tanz sind zwei Jäger-Originale, so kann man das wohl sagen. Der Vater mit Zwirbelbart und krummer Pfeife im Mundwinkel ist Jagdaufseher in einem Weinheimer Revier, seine zwölfjährige Tochter mit den hellblonden Locken schwärmt für das Jagen wie ihre Schulfreundinnen für die neueste Boygroup. Papa und Tochter Tanz gehen fast jedes Wochenende auf die Jagd. Und das Mädchen kennt sich besser aus als mancher altgediente Waidmann.

Wie auf einer Eisbahn fühlen sich die Treiber im Wald. Der Regen der letzten Tage hat das Laub glitschig werden lassen. Teilweise schlittern wir meterlang Abhänge herab. Der Waldboden ist morastig - eine Sauerei! Die Treiber machen ihren Job gut, Familie Tanz "drückt" sich laut schreiend durch den Wald, durchkämmt die Dickungen, die ihnen Karl Balmert und sein erfahrenen Freund Helmut Schmitt vorgeben. "Wutz, Wutz!", brüllt der Tanz-Vater, wenn eine Rotte auffährt und im Schweinsgalopp davonrast. Und er brüllt viel.

Auch Ronja, die Räubertochter auf vier Beinen, kommt auf ihre Kosten. Ein Jäger berichtet, einen Überläufer angeschossen zu haben. Der Gebirgsschweißhund nimmt die Fährte auf, laut jaulend. Der Hund stellt das verletzte Tier in einem Bachlauf. Harry und Corinna Tanz sind fast gleichzeitig dort. Mit einer abgesägten Flinte, seine Spezialität, gibt der Jäger dem Wildschwein den Gnadenschuss. Es ist sofort tot.

Neben 15 anderen Wildschwein-Körpern liegt es mittags am Randes eines Waldweges. Werner Schmitt verteilt an alle erfolgreichen Schützen kleine Tannenzweige, die sich die Jäger stolz an den Hut stecken. Stolz vermeldet Balmert: Die Jagd war noch erfolgreicher als die erste im Januar.

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Autor: Rhein-Neckar-Zeitung