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29.04.2005

Nach einem Jahr gelingt ihm die Flucht

Nach einem Jahr gelingt ihm die Flucht

Der Holocaust-Überlebende Paul Niedermann erzählte am KGS seine Lebensgeschichte - Lange Zeit verdrängte er das Erlebte

Nach langer Zeit kann er darüber sprechen: Der Zeitzeuge und Holocaust-Überlebende Paul Niedermann fesselte die Elfklässler am KGS mit seiner Lebensgeschichte. Foto: Dorn

Schriesheim. (ze) "Ich bin nicht nach Deutschland gekommen, um mit jemanden abzurechnen", stellt Paul Niedermann zu Beginn seines Berichtes über sein Leben während der Zeit des Holocaust klar. Mit ruhiger Stimme erzählt er den Schülern der elften Klassen des Kurpfalz Gymnasiums in Schriesheim (KGS) von einer Zeit, die anscheinend weit zurückliegt und nun durch ihn unmittelbar in die Räume der Stadtbibliothek gelangt. Doch es sind nicht nur die schrecklichen Erlebnisse seiner Kindheit, sondern seine durchdringende, optimistische Art, welche die Zuhörer in ihren Bann zieht. Einzig die Schulglocke zerreißt manchmal die Stille des Raumes.

Als Hitler Reichskanzler wird, ist Paul Niedermann sechs Jahre alt und kommt gerade in die Schiller-Schule in Karlsruhe. Die ersten beiden Schuljahre empfindet er als "normal", wenn auch die jüdischen Geschäfte bereits boykottiert wurden. An einen Vorfall aus dieser Zeit erinnert sich der gebürtige Karlsruher aber besonders: Die Verhaftung Ludwig Marums. "In einem Raubtierkäfig wurde der jüdische Anwalt Marum durch Karlsruhe gezogen und mit faulen Eiern beworfen", schildert Niedermann.

Mit den 1935 erlassenen Nürnberger Rassegesetzen ist auch ein wesentlicher Einschnitt im Leben des damals achtjährigen Niedermann verbunden. Jüdische Beamte werden entlassen und auch jüdische Freischaffende, wie beispielsweise Ärzte oder Architekten, dürfen nur noch Menschen gleichen Glaubens bedienen. Für Paul Niedermann bedeutet es den Rausschmiss aus der Schule.

Das nächste prägende Ereignis ist die "Reichskristallnacht". Denn danach kommt sein Vater für acht Monate ins Konzentrationslager Dachau. "Als er zurückkehrt ist er zerschunden und zerschlagen", schildert der heute 78-Jährige. An eine Auswanderung ist nicht mehr zu denken. Die jüdischen Bankkonten wurden nach dem 9. November 1938 gesperrt und bereits 1935 wurde den Juden die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen. Ohne Geld und Pass ist aber kein Visum zu bekommen. Im Herbst 1939 erfolgt die Deportation. Um drei Uhr morgens stehen drei Gestapo Beamte in Ledermänteln vor der Tür, nur das Notwendigste dürfen sie mitnehmen.

Vom Karlsruher Bahnhof geht die Eisenbahnfahrt nach Westen, drei Tage und vier Nächte. "Zu essen und zu trinken gab es nichts". Über die sanitären Verhältnisse möchte Niedermann erst gar nicht reden. Ziel der Fahrt ist das Lager Gurs, etwa 40 Kilometer südlich von Pau am Rand der Pyrenäen gelegen. Die Ausmaße sind gewaltig. Allein die Lagerstraße in der Mitte hat eine Länge von zwei Kilometern. Rechts und links davon stehen Baracken auf einer Breite von jeweils 250 Metern. Und es ist mit 65000 Menschen bereits bei Ankunft der 6500 Deportierten aus Baden und der Kurpfalz restlos überfüllt.

"Schlamm, daran erinnert sich jeder Überlebende von Gurs", fasst der heute bei Paris lebende Niedermann die Verhältnisse zusammen. Zu Essen gibt es einmal täglich eine Suppe in der manchmal weiße Rüben schwimmen und zweimal pro Woche gibt es 180 Gramm Brot. "Das Brot war ungenießbar und bestand wahrscheinlich zu 50 Prozent aus Sägespänen", berichtet Niedermann. Im Sommer 1941 werden die hygienischen Zustände im Lager derart kritisch, dass es aufgelöst wird. Niedermann kommt in ein Lager bei Rivesaltes, nördlich Perpignan nahe der Mittelmeerküste. Das Lager hier ist 30 Quadratkilometer groß und niemand weiß, wie viele Menschen sich darin befinden. Doch von hier aus gelingt ihm, zusammen mit seinem Bruder, nach einem Jahr die Flucht mit Hilfe einer Untergrundorganisation. Während Verwandte den Bruder in den USA aufnehmen, beginnt für Paul Niedermann eine wahre Odyssee durch Südfrankreich, bis er schließlich in der Schweiz eine sichere Zuflucht findet. Seine Eltern hat er nicht mehr wieder gesehen. Sie sind wahrscheinlich in Auschwitz oder Majdanek ermordet worden.

Jahrelang verdrängt Niedermann das Erlebte, bis er als Zeuge bei dem Prozess gegen Klaus Barbie aussagt. Der Staatsanwalt holt die Erinnerungen aus ihm heraus. Als er schließlich das erste Mal in Karlsruhe vor deutschen Schülern seine Lebensgeschichte erzählt, weiß er am nächsten Morgen, dass er nie wieder Albträume wegen des Geschehenen haben wird.

Die nächste Schulstunde hat schon wieder angefangen, immer noch sind mehrere Schüler um Paul Niedermann versammelt, stellen Fragen und betrachten Bilder aus den Zeiten des Holocaust, die der Überlebende mitgebracht hat. "Solche Zeitzeugen sind wichtiger als Bücher oder Filme" stellt die Fachlehrerin für katholische Religion, Hildegard Maier-Ehrke, fest, die mit anderen Lehrern die Veranstaltung mit Paul Niedermann organisierte und den Schülern damit eine unvergessliche Geschichtsstunde ermöglichte.

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Autor: Rhein-Neckar-Zeitung