Schriesheim im Bild 2023

08.05.2003

"Ich fühle mich jetzt als Schriesheimerin"

Die Stadt schloss gestern intensiv Freundschaft mit ihren heimgekehrten Juden - Bewegende Ausstellungseröffnung

Schriesheim. (ron) "Darf ich kurz etwas sagen?", so meldete sich Lore Tobias gestern kurz nach der Ausstellungeröffnung "Jüdische Spuren in Schriesheim" zu Wort. Erwartungsvoll hingen die Augen der Schüler an den Lippen der alten Dame. Jener Schüler, die sich liebevoll, mutig und engagiert in die Vorbereitung der Ausstellung eingebracht haben. Die Gedichte verfasst und Bilder gemalt haben als Gastgeschenke. Dann begann Lore Tobias langsam zu sprechen. "Meine Mutter Selma Sußmann", erzählte sie, "sprach oft davon, dass sie sich nicht als Jüdin und nicht als Christin fühlt, sondern einfach als Schriesheimerin." Und die 74-jährige als Kind aus der Stadt Vertriebene fügte hinzu: "Ich habe das lange nicht verstanden, aber jetzt verstehe ich es."

Ergriffen schauten die Schüler zu Boden, als sie diese Worte der Rührung vernahmen. Sie spürten, dass sie Lore Tobias, geb. Sußmann, gerade das Herz geöffnet hatten. Rochelle Tobias ergänzte für die ergriffene Mutter: "Wir sind sehr gerührt, wie sich hier alle mit unserer Geschichte beschäftigt haben, wir haben das so nicht erwarten können, es ist schön, in diesem Moment hier zu sein." Der zweite Tag der einst aus der Stadt vertriebenen Juden war gestern der Tag der bewegenden Annäherung der Besucher mit ihrer alten Heimat - und gleichzeitig der gefühlsstarken Annäherung von Zeitzeugen und Nachgeborenen an die Geschichte ihrer Stadt. Es war der Tag, an dem Lore Tobias, Erwin Maier und Martin Wimpfheimer von den Schriesheimern ins Herz geschlossen worden sind - und die Sympathie war auf beiden Seiten enorm groß. Und es war nicht zuletzt der Tag großer Momente von Symbolik.

Vor allem die Schüler trugen sehr schnell dazu bei, die "schlimmen Erinnerungen der Vergangenheit durch positive Erfahrungen zu ersetzen". So hatte sich Lore Tobias am Vortag beim offiziellen Empfang ausgedrückt. Vor dem Historischen Rathaus, wo wegen des Andrangs von Menschen fast die Heidelberger Straße verstopften, begrüßten die Grundschüler die Besucher mit fröhlichen Liedern. Drinnen in der Ausstellung verwiesen Realschüler und Gymnasiasten auf ihren Beitrag. "Wir haben von einem unbeschreiblichen Grauen erfahren", berichtete Katharina Kunkel aus der zehnten Klasse des Gymnasiums von den Vorbereitungen im Geschichtsunterricht, "und ich spreche für die ganze Klasse, wenn ich sage, dass wir dankbar dafür sind, dass Sie heute da sind." In einer Realschulklasse hat auch ein Mädchen aus Sri Lanka und ein Junge aus dem Iran ein Gedicht zum Thema Heimat verfasst. "Deutschland ist wegen seiner Vergangenheit besonders dazu verpflichtet, politische Flüchtlinge aufzunehmen", bekräftigte eine Mitschülerin. Theologie-Professor Dr. Joachim Maier hatte zuvor die Ausstellung mit einem symbolischen Akt eröffnet: Lore Tobias ergreift die Hand der Witwe Adele Metzger. Ihr Mann Wilhelm fand nach der Pogromnacht am 9. November 1938 die letzten Schnipsel der jüdischen Gebetsbücher, die von den Nazis in Brand gesetzt worden waren. Die Papierfetzen sind in der Ausstellung zu sehen.

Maier hatte zuvor an das Erinnern im jüdischen Sinne appelliert - also Geschichte zu verinnerlichen, als sei man selbst dabei gewesen. "Wer dem Vergangenen inne wird, dem ist sie allgegenwärtig", beschrieb der Theologe, der viel über die Geschichte der Schriesheimer Juden herausgefunden hat. Somit sei der Riss, den die Nazi-Herrschaft in Schriesheims Geschichte geschlagen hat, auch ein "Riss, der durch unsere Herzen geht". Zuvor waren die jüdischen Besucher auf den Spuren ihrer Geschichte durch die alte Heimatstadt gewandert. Bewegende Momente und erschütternde Begegnungen ergaben sich dabei an den Gräbern des jüdischen Friedhofs.

Aber auch nebenan auf dem christlichen, wo Erwin Maiers Vater begraben liegt, der wegen seiner jüdischen Frau vertrieben wurde. Im Alter kam er nach Schriesheim zurück. Immer wieder kamen Menschen auf die Besucher zu, suchten das Gespräch und begannen Geschichten aus der gemeinsamen Kindheit zu erzählen.

INFO: Die Ausstellung "Jüdische Spuren in Schriesheim" ist noch bis zum Donnerstag, 15. Mai, zu sehen. Öffnungszeiten täglich 14 bis 17 Uhr (außer montags), sonntags 11 bis 17 Uhr.

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Autor: Rhein-Neckar-Zeitung