Schriesheim im Bild 2023

22.06.2003

An allen Ecken und Enden fehlen junge Lehrer

Schriesheimer Elternsprecher schlagen Alarm - Zehn Prozent der Schulstunden fallen aus - Falsche Versprechungen im Koalitionsvertrag
Von Roland Kern

Schriesheim. Der Gemeinschaftskunde-Schüler der Klassenstufe Zwölf am Schriesheimer Gymnasium hatten Anfang des Jahres ein lockeres Leben. Zwischen Januar und April sind 23 Stunden Unterricht ausgefallen - so viel ist selbst den Schülern suspekt. "Es ist einfach katastrophal", schüttelt Elternsprecher Bernd Becker den Kopf. Die Gemeinschaftskunde ist keine Ausnahme. Genauso wenig wie die Verhältnisse in Schriesheim innerhalb des Landes Baden-Württemberg eine Ausnahme darstellen. Die Lehrerversorgung, bemängeln Eltern wie Bernd Becker, ist "unverantwortlich".

Die 23 Stunden Unterrichtsausfall in vier Monaten in der zwölften Klasse ist ein besonders drastisches Beispiel, weil sich die Schüler ein Jahr vor dem Abi in Gemeinschaftskunde schon auf ihre große Reifeprüfung vorbereiten. Aber es ist nicht das einzige. In der 7 c des Kurpfalz-Gymnasiums fielen im gleichen Zeitraum 21 Stunden Englisch aus, auf das gleiche Fach musste die 5 b 26 Stunden lang verzichten. Und die 6 d musste zwischen Januar und April 26 Stunden ohne Deutschunterricht auskommen. Die Klassen-Gesellschaft Schule leidet unter einem eklatanten Lehrermangel, der sich jetzt - als wäre es nicht schlimm genug - mit dem von der Landesregierung verkündeten Einstellungsstopp noch verschlimmern wird. Er spricht sogar von einem "systematisch überalterten Lehrerkollegium".

So wie in Schriesheim, gibt es auch an anderen Schulen mittlerweile einen Krisenstab, der gemeinsam mit dem Schulleiter einberufen wird, um Notpläne zu entwerfen, wenn wieder mal ein Lehrer krank geworden ist. Nur, das Notprogramm wird langsam zum Alltagsgeschäft. Laut einer Auswertung von Elternvertreter Becker (Foto: Kreutzer) sind im ersten Quartal des Jahres 2003 am Schriesheimer Kurpfalz-Gymnasium im Durchschnitt knapp zehn Prozent der Stunden ausgefallen, weil der Lehrer krank oder anderweitig verhindert war. Den Spitzenplatz belegt der März mit 10,9 Prozent. Von den Ausfallstunden werden im Allgemeinen weniger als die Hälfte durch andere Lehrer ersetzt. Der größere Teil fällt aus - schlichtweg einfach unter den Tisch. Der Grund: Es fehlen Lehrer, die bei dem Ausfall eines Kollegen einspringen können. Und zusätzlich werden die angestellten Lehrer immer älter, was schon statistisch gesehen längere Fehlzeiten mit sich bringt. In Schriesheim beträgt der Altersdurchschnitt der Lehrer 53 Jahre. Und das ist in anderen Teilen des Landes noch schlimmer. "Wir haben hier sogar noch einen Speckgürtel durch die Nähe zu den Unistädten", weiß Bernd Becker, der ohnehin erklärt: "Dieses Problem ist auf der Ebene der Schule nicht in den Griff zu bekommen." Becker: "Es handelt sich um ein Strukturproblem, das die Verschlechterung der Unterrichtssituation in Baden-Württemberg in den letzten Jahren widerspiegelt." Eltern wie Becker sind doppelt erbost, weil die unionsliberale Regierung in Stuttgart noch in dem jetzt zwei Jahre alten Koalitionsvertrag "weitere Stellen zur Sicherung der Unterrichtsversorgung einschließlich des Aufbaus einer Krankheitsvertretungsreserve schaffen" wollte. So drückte sich Kultusministerin Annette Schavan nach ihrer Ernennung aus. Von 5500 neuen Lehrerstellen ist in der gleichen Erklärung die Rede. Zu diesen Maßnahmen wird es nie kommen, seit die Stuttgarter Regierung von den Realitäten einer maroden Finanzlage eingeholt worden ist. Stattdessen bedienten sich Schavan und ihre Regierungskollegen "Taschenspielertricks", wie es Becker formuliert. Das Lehrerdeputat einer Stelle wurde um eine Stunde erhöht, auch die Oberreferendare müssen jetzt drei Stunden mehr in der Woche halten. Für die Eltern ist das keine akzeptable Lösung: "Wir brauchen keine neuen Stunden auf dem Reißbrett, was wir brauchen sind Menschen", fordert Becker. Nach Ansicht der Eltern hilft nur eine Einstellung junger Lehrer gegen die Überalterung des Kollegiums plus der versprochenen Krankheitsreserve.

An der Lehrersituation haben die Eltern noch mehr zu kritisieren, auch das System der Fortbildung sei völlig antiquiert, gibt Becker zu bedenken. Und das vor den einschneidenden neuen Anforderungen, die mit "G 8" und möglichen Ganztagesschulen an die Lehrer gestellt werden. "So etwas ist mit einem überalterten und schlecht fortgebildeten Kollegium nicht zu schaffen", fürchtet er. Den Eltern ist bange vor der Zukunft.

Als "unverantwortlich" empfindet Becker auch die absehbare Lehrer-Personalpolitik der nächsten Jahre. Und er kann es nur auf die Ignoranz einiger Kultus-Bürokraten zurückführen, wenn sich niemand auf den Lehrermangel einstellt, der vermutlich bis zum Jahre 2010 in Baden-Württemberg herrscht. In den nächsten sieben Jahren werden nämlich 50 Prozent der Gymnasiallehrer pensioniert. Becker kann nur mit dem Kopf schütteln, "wenn man jetzt einer ganzen Generation von jungen Lehrern vor den Kopf stößt". Seine Befürchtung: die guten jungen Lehrer, die jetzt im Ländle keine Chance bekommen, wandern in andere Bundesländer ab.

Und nach eindeutigen Statistiken werden in etwa sechs bis sieben Jahren Lehrer händeringend gesucht. Nur in den Fächern Französisch und Geschichte wird es auch im Jahr 2010 so viele Studienabgänger geben wie frei werdende Stellen. In manchen Fächern, am schlimmsten in den Naturwissenschaften und in Religion, wird der Bedarf nur etwa zu 20 Prozent abgedeckt. "Jetzt schickt man die guten Leute weg und weiß doch, dass man in sieben Jahren jeden Dödel einstellen muss", kann sich Becker nur wundern. Die Politik, die an diesem Punkt verharrt, bezeichnet er mit "Arbeitsverweigerung vor ganz wichtigen politischen Punkten". Er selbst ging den 60er Jahren zur Schule und erinnert sich noch sehr gut, von einem bereits pensionierten Lehrer unterrichtet worden zu sein, der aus dem Ruhestand heraus einspringen musste. 40 Jahre später habe daraus wohl niemand etwas gelernt, sagt der Elternsprecher verwundert.

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Autor: Rhein-Neckar-Zeitung