Schriesheim im Bild 2023

23.05.2019

70 Jahre Grundgesetz: Darum muss eine 80-jährige Mieterin in Schriesheim ausziehen

Im Kampf gegen Wohnungsnot soll Innenverdichtung helfen - Dafür müssen langjährige Mieter wie Anneliese T. weichen

Von Frederick Mersi

Schriesheim. Wer die Wohnung von Anneliese T.* betritt, fühlt sich einige Jahrzehnte zurückversetzt. Die Wände sind spärlich dekoriert, digitale Geräte sucht man vergebens, die Möbelstücke erinnern an Antiquariate. Seit 50 Jahren wohne sie hier, sagt T. mit ruhiger, aber bestimmter Stimme.

Jetzt liegt eine Räumungsklage auf dem Tisch, zusammen mit zahllosen weiteren Zeugnissen ihres Streits mit den Eigentümern des Mehrparteienhauses im Stadtkern: Sie wollen abreißen und neu bauen, T. will nicht weg.

"Ich habe hier immer alles so weit erhalten, wie ich es konnte", sagt sie und schaut in Richtung Küchenzeile. "Jetzt soll ich mich mit 80 noch einmal neu einrichten." T. ist Schriesheimerin, hat über Jahrzehnte unweit ihres Zuhauses gearbeitet, sie will die Weinstadt nicht verlassen.

"Und jetzt mieten sie mal in Schriesheim eine Wohnung", sagt sie mit herausforderndem Blick. Möglichst noch barrierefrei? Das zu finden, sei nicht leicht. "Wenn die Eigentümer mich hier raushaben wollen, müssen sie mit mir sprechen", sagt sie.

Stattdessen wächst der Umfang ihres Ordners mit Schreiben vom Rechtsanwalt der Eigentümer und vom Mieterverein Heidelberg. Am 15. Februar 2018 war T. bereits gekündigt worden, mehr als einen Monat früher, als es die gesetzliche Frist von einem Jahr vorgibt. Zum 31. März sollen alle fünf Mietparteien ihre Wohnungen geräumt haben, T. weigert sich.

Auch nach einer Ersatzwohnung sucht sie nicht, sie will in "ihrem" Zuhause bleiben. In ihrem Auftrag legt der Mieterverein Heidelberg Widerspruch gegen die Kündigung ein, allerdings ohne echte Konsequenzen: Am 3. April flattert ein weiteres Schreiben des Rechtsanwalts in T.’s Wohnung - eine Räumungsklage.

Neben der fristgerechten Kündigung gibt es eine weitere Begründung: Seit geraumer Zeit beherbergt T. ihren Enkel in ihrer Wohnung. Er studiert in Heidelberg und hilft ihr im Haushalt. Offiziell gemeldet hat sie das den Eigentümern nie. Die wissen nur, dass der Enkel dort vorübergehend übernachtete. Ein "eklatanter Verstoß" gegen den Mietvertrag, heißt es in der Klage.

Inzwischen sind zwei der fünf Parteien aus dem Gebäude ausgezogen, eine weitere wird bald folgen. Neben T. weigert sich ein weiterer Mieter, seine Wohnung zu räumen. Mit dem Abriss müssen sich die Eigentümer weiterhin gedulden, obwohl der bereits genehmigt worden ist.

Einer der drei Besitzer, Herbert B.*, ist nach anfänglichem Zögern bereit, über die Ereignisse zu sprechen. "Die Eigentümer sind bei solchen Geschichten immer die Bösen", sagt er. "Dieses Mal verhält es sich aber ein bisschen anders." Der Neubau sei genau das, was sich die Stadt immer wünsche: Innenverdichtung, also der Bau neuer Wohnungen ohne zusätzlichen Flächenverbrauch. Acht Apartments sind in dem Neubau geplant, drei mehr als in dem in die Jahre gekommenen Gebäude. "Das ist aus meiner Sicht auch nicht mehr sanierbar", sagt B.

Rechtlich sind die Eigentümer einwandfrei vorgegangen: Sie haben die Kündigungsfrist eingehalten, Abriss und Neubau sind als Grund hieb- und stichfest. "Wir haben die Mieter mehr als rechtzeitig über unsere Pläne und die Kündigungen informiert", sagt B. Wenn T. Probleme bei der Wohnungssuche gehabt hätte, hätte sie sich direkt an ihn wenden können: "Sie hätte es mir nur sagen müssen." Einem anderen Mieter habe er schon helfen können, nachdem dieser sich an ihn gewandt habe.

Jetzt, erklärt der Miteigentümer, habe er kein Mitleid mehr. Mit ihrer Haltung verzögere T. den Neubau von dringend benötigten Wohnungen. "Wir haben uns ordentlich verhalten - und niemand hat einen Anspruch darauf, auf ewig in der gleichen Mietwohnung bleiben zu dürfen." Dass T. mit ihrer Rente wohl nicht noch mal eine Vier-Zimmer-Wohnung in Schriesheim bekomme, sei ihm klar: "Dann muss man sich verkleinern."

T. will dennoch bleiben. Sollte sich an der Situation nichts ändern, steht ihr wohl eine Zwangsräumung bevor - nach 50 Jahren. "Ich hoffe, dass sie das weiß", sagt B. Er habe Verständnis für T.’s Situation. "Aber mehr können wir nicht machen."

(*Namen von der Redaktion geändert)

Die Grundrechte: Artikel 14

Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt. (1)

Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. (2)

Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. (3)

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Autor: Rhein-Neckar-Zeitung