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24.06.2004

Der Rausch des Dabeiseins

Ist mein Kind computersüchtig?

Mit expressiver Körpersprache und griffigen Beispielen überzeugte der Referent

Schriesheim. (ws) Neil Postman, der verstorbene amerikanische Medienwissenschaftler und Medienkritiker, postulierte einst in seinem Buch "Wir amüsieren uns zu Tode" (1985): "Das Problem ist nicht, dass das Fernsehen uns unterhaltsame Themen präsentiert, sondern dass es uns weismachen will, dass jedes Thema unterhaltsam ist". Seine Aussage ist heute aktueller denn je. Fernsehen, Computer, Internet und Handys üben eine Faszination aus, die bei vielen Nutzern mehr und mehr mit einem Verlust der Freiheit einher geht.

Dieser Verlust, so der Referent Ulrich Wehrmann, der einen Vortrag zum Thema "Computersucht" am Schriesheimer Schulzentrum hielt, sei vor allem ein Problem, mit dem sich Eltern und Lehrer konfrontiert sehen. Die Nutzer selbst seien sich der Problematik meist nicht bewusst - im Gegenteil: maßgeschneiderte Information, schneller Zugriff, grenzenlose Kommunikation und "am Ball bleiben" sind Argumente, die Eltern immer wieder zu hören bekommen. Doch 90 Prozent der Informationen im Internet, so Wehrmann, seien Schrott, nur zehn Prozent seien Perlen.

Diese Perlen auszuheben, erfordert eine entsprechende Bildung, denn ohne Bildung würden Informationen im Netz wie "strukturloser Konfettiregen" auf den Nutzer niederprasseln. Meist ist dies der Fall. Auch Edutainment, animationsgesteuertes Lernen am Computer, bringt nur etwas, wenn man gezielt und strukturiert vorgeht. Oft geht der Nutzen gegen Null, wenn man die Zeit zum Nutzen in Relation setze. Die Gefahr bei der Computersucht liegt darin, dass man sich sozial abkapselt und dass man dem "funktionalen Analphabetismus" anheim fällt, das heißt zusammenhängende Texte können nicht mehr erfasst werden. Computerspiele mögen zwar die Schnelligkeit und die Konzentration fördern, aber das haptische, sinnliche Erleben, eine Fähigkeit, die ganz wesentlich zur Entwicklung eines Menschen beiträgt, bleibt dabei auf der Strecke.

Wehrmanns Vortrag konzentrierte sich auf die "Internetabhängigkeit", ein Terminus, der als erster von Ivan Goldberg formuliert wurde. Eine aktuelle Studie von Jerusalem an der Humboldt-Universität zu Berlin belegt, dass rund 1,2 Millionen Nutzer "problematisches Internetverhalten" zeigen. Kommunale Suchtvereine, Initiativkreise und Psychologen erkennen eine starke Nachfrage nach Hilfe. Dies sind meist Eltern, die sich in der Erziehung ihrer "Computer-Junkies" vollkommen überfordert fühlen. Die Kinder sind süchtig nach PC-Spielen, Surfen im Internet und Chatten. Oft sind die Eltern hilflos, es fehlt ihnen an Argumenten; oft stehen sie unter Zeitdruck und sind erleichtert, wenn sich ihre Kinder selbst beschäftigen können; oft gehen diese Geständnisse aber auch Hand in Hand mit der Angst, dass es "nicht gut sei", dass ihre Kinder "süchtig" sein könnten.

Ulrich Wehrmann gibt als Faustregel eineinhalb Stunden pro Tag für Medienkonsum, dazu zählt auch das Fernsehen. Diese Regel soll nicht starr eingehalten werden, sondern man kann auch ab und zu geben. Grundsätzlich sei es jedoch wichtig zu erkennen, ob das Kind oder der Jugendliche noch "seine Freiheit im Griff hat, aufzuhören" - der Computer darf nicht zum Maß aller Dinge, nicht zum Lebensmittelpunkt werden. Wichtig sei auch, so Wehrmann, dass die Eltern die Konsequenzen ihrer Grenzsetzung aushalten.

Einer der Gründe, warum die Sucht nach dem Computer einsetzt, ist der Verlust "familiärer Rituale". Was meint Wehrmann damit? Zum Beispiel den wöchentlichen MRC-Besuch, den Vater und Sohn früher immer machten oder die Stunden, die früher zusammen verbracht wurden in denen man gemeinsam was machte.

Oft fühlen sich Eltern auch gefangen in dem Dilemma, dass ihr Kind stundenlang vor dem PC sitzt, PC-Kenntnisse aber auch zu den unabdingbaren Schlüsselqualifikationen gehören, um später im Beruf konkurrenzfähig zu sein. Dem widersprach der Referent. Schlüsselqualifikationen sind ganz andere. Hierzu zählen Teamfähigkeit, soziale Kompetenz, Phantasie, konstruktive Fehlerkultur bzw. eine positive Streitkultur - alles Qualifikationen, die man nur im sozialen Austausch, sprich in der Familie, einüben kann. Kinder brauchen Zumutung, emotionale Zuwendung, Werteorientierung, Rituale und Spielräume. Daran mangelt es meist. Die Gesellschaft ist eine vom Diktat des Konsums geprägte und Eltern seien dem gegenüber meist überfordert.

Im Anschluss an Wehrmanns Vortrag, stellten die Vorsitzende Charlotte Lewerich und Herta Clermont (Finanzen) diesen Verein vor. "Eltern für Eltern" wurde vor eineinhalb Jahren von Eltern für Eltern gegründet, das heißt Eltern unterstützen Eltern mit Rat und Hilfe. Ferner bietet der Verein Veranstaltungen an, um Eltern im Erziehungsprozess zu unterstützen. Der Mitgliedsbeitrag von 12 Euro pro Jahr wird gering gehalten, somit können auch finanziell Schwache sich einbringen oder Hilfestellung erhalten. Der Verein finanziert sich hauptsächlich durch Drittmittel und Spenden.

Etwas ähnliches möchte man nun auch in Schriesheim gründen. Gegen Ende der Veranstaltung rief Kathrin Michelmann, Sozialarbeiterin in der kommunalen Jugendarbeit in Schriesheim, interessierte Eltern dazu auf, sich bei ihr zu melden. Zu Beginn soll diese Initiative als Arbeitskreis fungieren und später, je nach Engagement, in einen Verein umgewandelt werden.

INFO: Kathrin Michelmann, Kommunale Jugendarbeit,Tel. 06203-602116; email: kathrin.michelmann@schriesheim.de

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Autor: Rhein-Neckar-Zeitung