Schriesheim im Bild 2023

01.02.2022

Kiosk "Auszeit": Schriesheim verliert eine Institution

Er war legendär unter den Schülern: Nach 24 Jahren schloss am gestrigen Montag der Kiosk "Auszeit". Viele Stammgäste nahmen gerührt Abschied.

Von Micha Hörnle

Schriesheim. Man muss Walter Lichtenberger in seinem Reich erlebt haben, um zu erahnen, was künftig vielen Schülern – und nicht nur denen – fehlen wird: Nach 24 Jahren schloss gestern das "Auszeit" in der Conradstraße für immer, und damit hat Schriesheim seinen letzten richtigen Kiosk verloren. Wanda Straka, die seit 2004 im "Auszeit" mitarbeitet, erinnert sich gut an die Zeit, als es mehrere Kioske in Schriesheim gab: das von Jürgen Opfermann an der "Pfalz", das von "Seppl" Flößer in der Friedrichstraße (heute ist dort im Neubau ein Döner-Imbiss) oder das am OEG-Bahnhof. Aber die Atmosphäre im "Auszeit" war schon etwas Einmaliges, Walter – so nennen ihn hier alle – ist der Held unzähliger Schülergenerationen und im Übrigen auch ein Super-Arbeitgeber, wie Straka findet: "Wir waren ein eingespieltes Team." Sie verhehlt auch nicht, dass zum Abschied Tränen geflossen sind.

Max, Paul und Luis aus der siebten Klasse hatten am Samstag Lichtenberger sogar einen selbst gebackenen Marmorkuchen vorbeigebracht: "Wir sind eigentlich jede Pause hier", sagt Paul, "hier kommen wir immer zusammen". Spricht’s und bestellt sich einen Cheeseburger, um sich nachher mit seinen Freunden auf dem überlebensgroßen "Haribo"-Mann zu verewigen – wie es schon so viele Schüler getan haben. Eine Aufschrift ist mittlerweile legendär: "Walter, ich will ein Kind von Dir!" Das hört Lichtenberger, der selbst drei Kinder hat, nicht so gern, und auch Luis belässt es bei einem eher unverfänglichen Lob: "Walter, Du bist der Beste!"

In dem knappen Vierteljahrhundert prägte der Kiosk das Leben vieler Schüler, und etliche kommen heute noch – wie Simon Braun "seit der ersten und in der letzten Stunde". Als Siebenjähriger kaufte er hier Schulsachen, "heute mit 31 kaufe ich mir Gesellschaft", sagt er und schmunzelt: "Man trifft sich eben hier, um einen Kaffee zu trinken und ein Schwätzchen zu halten." Und deswegen hat er sich eigens freigenommen, wie auch sein Kumpel Kahraman Kilinic, der sich auch im reifen Alter von 41 Jahren ein "Kind der ersten Stunde" nennt: Einst kaufte er seine Schulmaterialien hier, mittlerweile sind es Autozeitschriften. Kennengelernt hat der Leutershausener Simon Braun im Kiosk, jetzt müssen sie sich einen neuen Treffpunkt suchen, denn oft begann ihr Arbeitstag genau hier. Für ihn war es "Ehrensache, am letzten Tag hierherzukommen" und Lichtenberger zur Seite zu stehen. "Er hinterlässt ein tiefes, schwarzes Loch", meint auch Braun. Das sieht auch der ehemalige Bauhofmitarbeiter Walter Koch so, den es im Ruhestand noch von Wilhelmsfeld in die Conradstraße zieht; früher, auf seinen Touren durch die Stadt, war er "jeden Tag hier": "Schade, dass es in Schriesheim jetzt keine Institution wie diese mehr gibt. So etwas fehlt!" Und so stapeln sich am Montag die Abschiedsgeschenke, "am Samstag waren es noch mehr", sagt Lichtenberger gerührt.

Zu den Stammkunden zählt auch Hausarzt Alexander Tecl, der schon als Siebtklässler hierherkam ("Das ist ein Teil meiner Jugend") und mittlerweile mit Lichtenberger eine Lotto-Tippgemeinschaft hat. Sein Favorit waren stets die Schnitzelbrötchen, "immer zu humanen Preisen". Sogar während des Studiums machte er, von Großsachsen her kommend, im "Auszeit" immer Zwischenstation auf dem Weg ins Neuenheimer Feld. Und wie viele Stammkunden hat er für seinen Morgenkaffee seine eigene Tasse. Überhaupt: Hier fließt im Grunde nur Kaffee, manchmal auch eine Fanta, harte Sachen wie bei anderen Kiosken gab es im "Auszeit" nie.

Aber wie kann es Lichtenberger wagen, nach so langer Zeit seinen Kiosk aufzugeben? "Es ist das Knie", das Stehen fällt dem Fast-70-Jährigen schwer. 1998, da war die kleine Ladenzeile frisch gebaut, wagte Lichtenberger, der bei einem Heidelberger Autohaus gearbeitet hatte, den Sprung in die Selbstständigkeit und kaufte die Fläche. Ihn störte es nicht, jeden Tag die fast 40 Kilometer von Mauer – der gebürtige Heidelberger ist dort mit der Tochter des ehemaligen Landwirtschaftsministers Gerhard Weiser verheiratet – zu fahren: "Wenn man etwas gern tut, macht das einem nichts aus." Und doch fiel der Abschied schwer – zumal ihn die Schriesheimer adoptiert hatten: 2017 lief er auf Initiative des Jugendgemeinderats beim Mathaisemarkt-Umzug als "Schriesheimer Original" mit.

Und was wird aus dem Kiosk? Ein Grafik- und Werbestudio. Es hätten sich zwar zwei Interessenten gemeldet, die den Laden weiterbetreiben wollten, aber da war der Mietvertrag schon unterschrieben. Er selbst will sich jetzt mehr um seine Familie und das große Grundstück in Mauer kümmern. Aber Schriesheim und sein Kiosk werden immer etwas Besonderes für ihn bleiben: "Das war mein Leben!"

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Autor: Rhein-Neckar-Zeitung