Schriesheim im Bild 2023

31.10.2008

Ottilie Streng betete katholisch, protestantisch und jüdisch

Professor Joachim Maier begab sich mit den Teilnehmern der Führung auf die Spuren der ehemaligen jüdischen Mitbürger Schriesheims.

Schriesheim. (nip) Nachdem im April ein erster VHS-Rundgang durch das jüdische Schriesheim mit rund 40 Teilnehmern überbucht war, boten Monika Stärker-Weineck und Professor Joachim Maier nun eine zweite Führung auf den Spuren jener jüdischen Mitbürger an, die alle bis zum September 1939 den Ort verlassen hatten.

Stärker-Weineck und Maier sind seit sechs Jahren mit der Aufarbeitung dieses Stücks Stadtgeschichte befasst, das trotz seiner Tragik immer wieder voller kleiner Wunder steckt. "Ein Mosaik", sagte Maier am Startpunkt Historisches Rathaus, wo sich elf Teilnehmer zusammenfanden. Erste Anlaufstelle war die Vitrine im Obergeschoss des Rathauses, wo der Gebetsschal (Tefilin) von Herbert Marx als bedeutendstes Ausstellungsstück gilt. Älteste Objekte sind Seiten aus jüdischen Gebetbüchern, die ein Schüler am 1. November 1938 aus einem fast zu Asche verbrannten Haufen Bücher zog. Der Junge wurde später Theologe und schenkte der Stadt vor 20 Jahren seinen Fund.

1933 hatte Schriesheim rund 4000 Einwohner. Knapp 40 von ihnen waren Juden aus zwölf, dreizehn Familien. Im Jahr 1864 hatte die Jüdische Gemeinde mit 132 Mitgliedern ihre Blüte, die ab 1920 zu welken begann: Etliche wanderten nach Amerika aus oder zogen der Arbeit wegen in die größeren Städte wie Mannheim oder Frankfurt. Diejenigen, die 1933 in Schriesheim lebten, waren gleichberechtigt und emanzipiert. So trafen sich beispielsweise Herbert Marx, sein Vater Josef und sein Bruder Lothar regelmäßig zum Schachzirkel mit dem Pfarrer und Lehrern. Marxs Bruder Manfred verließ damals als Erster Schriesheim gen USA. "Die Familie wurde zerrissen, die Mutter und Lothar gingen nach Südafrika", erzählte Stärker-Weineck auf dem Weg durch die Stadt, der auch an der früheren Synagoge vorbeiführte. Und am Haus der Familie Oppenheimer in direkter Nachbarschaft zur Bäckerei Höfer. Übers uneinsehbare Fenster im Hof reichten Höfers damals das fertig gebackene Sabbatgebäck an Oppenheimers zurück. Verboten war das allemal: "Kauft nicht bei Juden", warnte ein Schild in der Heidelberger Straße. Die inzwischen gestorbene Ottilie Streng war Dienstmädchen bei Oppenheimers. Abends betete sie dreimal mit den Kindern: katholisch, protestantisch und jüdisch. Bis 1935 kein Problem, als sie die Stelle aufgeben musste. Abends kam sie in der Dunkelheit dennoch zurück. Ab 1937 verkauften die jüdischen Mitbürger ihre Häuser unter Wert. Herausgerissen aus ihrer Sozialisation und in Unkenntnis der Sprache, begannen Schriesheims Juden ein neues Leben in Übersee. Vorausschauend brachen Levi Schlösser und seine Frau Jette, geborene Marx, im Herbst 1933 ins vermeintlich sichere Holland, der Heimat Levis, auf. "Sie erlitten das schrecklichste Schicksal von allen jüdischen Schriesheimer Familien", erzählte Maier. 1943 wurde die Familie im Konzentrationslager Auschwitz in der Gaskammer ermordet.

Wurde Widerstandskämpfer Karlheinz Klausmann im Mai 1944 bei einem Fluchtversuch in Frankreich von Deutschen erschossen? Oder kam er ein Jahr später als Soldat einer französischen Einheit ums Leben? Fest steht: "Er war ein Kämpfer gegen das Joch der Nationalsozialisten in ganz Europa." Das erfuhr Maier von einem Kameraden Klausmanns. Es gibt noch viel zu sammeln, zu erzählen und zu veröffentlichen über Schriesheims Juden. Gut, dass dieser Rundgang ins regelmäßige VHS-Programm aufgenommen werden soll.

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Autor: Rhein-Neckar-Zeitung