Schriesheim im Bild 2023

13.11.2008

„Ich werde den Tätern nie vergeben können"

„Ich werde den Tätern nie vergeben können"

Inge Auerbacher (Foto: Dorn)

Schriesheim. (sk) Als Kind träumte sie von einem Riesenberg Schlagsahne ganz für sich alleine, und ihre größte Angst war, dass man ihr die Puppe wegnehmen könnte. So normal das auch klingt, war doch nichts normal an der Kindheit von Inge Auerbacher. Sie verbrachte ihre prägenden Jahre im Getto Theresienstadt.

Ein Rückblick auf diese Zeit ist ihr 1986 erschienenes Buch "Ich bin ein Stern", das Schüler der sechsten und siebten Klassen des KGS gelesen hatten. Mit ihren Lehrerinnen Renate Hörisch-Helligrath, Hildegard Maier-Ehrke und Sibylle Schuler-Vogt konnten sie die Autorin jetzt bei der Veranstaltung "Erinnern und Begegnen" in der Stadtbibliothek kennenlernen. "Ich werde den Tätern nie vergeben können, aber ich komme zur Versöhnung, auch wenn ihr und ich nie im Streit wart", stellte sie klar. Von Beruf war die 75-Jährige, die in den USA lebt, Chemikerin, doch das Schreiben wurde zu ihrem Hobby – derzeit arbeitet sie an ihrem sechsten Buch.

Sie seien Deutsche gewesen, genau wie die Nachbarn im Dorf, berichtet Auerbacher. Der Vater wurde im Ersten Weltkrieg schwer verwundet und mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. "Wir gingen am Samstag in die Kirche, die anderen Kinder am Sonntag, das war der einzige Unterschied", so Auerbacher. Mit dem Aufkommen der Nazidiktatur begannen die Schikanen, von denen die kleine Inge aber noch nichts mitbekam.

Prägend war der 10. November 1938, als in Kippenheim bei Lahr, wo die Familie wohnte, die Ausschreitungen gegen jüdische Familien begannen. Der Großvater ging wie immer zum Beten in die Synagoge, doch an diesem Morgen wurde er misshandelt, verhaftet und zusammen mit dem Vater ins KZ Dachau gebracht. Die Synagoge und die Häuser der jüdischen Familien wurden verwüstet, die Familie Auerbacher versteckte sich den Tag über in der Scheune hinten im Hof. Nach der Rückkehr von Vater und Großvater verkaufte die Familie 1939 ihr Haus und zog nach Jebenhausen bei Göppingen zu den Großeltern, wo der Großvater ein Jahr später, körperlich und seelisch zerrüttet von der KZ-Haft, starb.

Aus dieser Zeit blieben Inge die Freundschaften zu anderen Kindern in Erinnerung, aber auch die Gleichgültigkeit der Menschen gegenüber dem Schicksal der Juden. Als viele von ihnen ins Lager Gurs deportiert wurden, standen Gaffer herum oder sahen aus dem Fenster. "Ich habe Jahre später eine Frau von 80 Jahren gefragt, was sie denn da machte, und sie sagte, sie habe nur mal gucken wollen. Geholfen hat uns keiner", so ihre bittere Erfahrung. Nach nur sechs Monaten musste sie die Schule verlassen, sie und die anderen Kinder wurden gezwungen, den gelben Judenstern zu tragen. Zusammen mit 1200 Menschen wurde sie 1942 nach Theresienstadt deportiert. Nur 13 dieser Menschen überlebten, darunter Inge und ihre Eltern. Auch hier wurde der Marsch der Internierten in das Lager von Zuschauern beobachtet und sogar fotografiert, und auch hier half keiner. Im Lager gab es nichts als Schmutz, Ungeziefer, Krankheiten und Leichen.

Inge erkrankte an Scharlach und Tuberkulose, hatte Läuse und ständig Hunger. Mutige Lehrer versuchten, die Kinder zu unterrichten, aus dieser Zeit blieb ein Papierfetzen mit einem englischen Gedicht erhalten, in dem Inge träumt, ein freier Vogel zu sein. Weil die Lagerleitung behauptete, es wären Gefangene geflohen, mussten einmal im November alle einen ganzen Tag lang draußen im Freien verharren, ohne Essen, Trinken oder Toiletten. Wer sich regte, wurde geschlagen, so auch Inges Mutter, die mit Gewehrkolben verprügelt wurde.

Beim Besuch des Roten Kreuzes wurde das Lager "aufpoliert", es wurde ein Orchester gegründet und Geld gedruckt, und die Abgesandten glaubten die Lüge. Als das Lager 1945 befreit wurde, riss sich Inge als Erstes den Stern herunter. Sie war das einzige von 10000 jüdischen Kindern aus Baden, das überlebt hatte.

Copyright (c) rnz-online

Autor: Rhein-Neckar-Zeitung