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06.10.2011

Er wird die "976 Tage Hölle" nie vergessen

Er wird die "976 Tage Hölle" nie vergessen

Manfred Görlach berichtete seinen Zuhörern im Zehntkeller über die unmenschlichen Haftbedingungen in der ehemaligen DDR. Er wurde damals wegen 'Fluchthilfe' und 'Abwerbung' verurteilt. Foto: Peter Dorn

Von Stephanie Kuntermann

Schriesheim. Manche Fragen beantworten sich von selbst. Etwa die Frage, ob die DDR ein Unrechtsstaat war. Manfred Görlach ließ statt einer Antwort die Umstände seiner Verhaftung und Inhaftierung in der DDR für sich sprechen. Der heute in Heidelberg lebende Anglistikprofessor sprach bei der Kundgebung des CDU-Stadtverbands am gestrigen Tag der Deutschen Einheit und ließ drei Jahre im Zuchthaus Brandenburg Revue passieren: "976 Tage Hölle."

Angefangen hatte alles mit einer Bitte. "Holt mich hier raus!", forderte eine DDR-Studentin den Westberliner Studenten zum Helfen auf. Ein "Nein" hätte er sein Leben lang bereut: "Wenn man um Hilfe gebeten wurde, gab es keine Alternative." 6600 Menschen, so schätzen Wissenschaftler, wurden von Studenten in den ersten Monaten nach dem Mauerbau über die Grenze geschmuggelt. Einer dieser vom DDR-System als "Menschenhändler" bezeichneten Studenten war Görlach, der zunächst als Kurier, später als Fluchthelfer arbeitete. Ein fehlgeleiteter Brief, der nicht an die Adresse eines potenziellen Flüchtlings, sondern an die einer strammen Kommunistin gleichen Namens ging, ließ ihn in die Falle der Stasi gehen.

Ein Vierteljahr der Vernehmungen und völlige Rechtlosigkeit folgten. Einen Tag vor der Verhandlung lernte er "seine" Rechtsanwälte kennen, einer war Stasi-Mitarbeiter Clemens de Maizière, Vater des späteren letzten DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière. Der riet dem Häftling zur Kooperation und zur "guten Führung", denn das könnte eine vorzeitige Haftentlassung bringen.

Das Urteil lautete auf vier Jahre Zuchthaus wegen Fluchthilfe und "Abwerbung". "Dort war alles darauf ausgerichtet, die Menschen zu brechen", berichtete Görlach. 14 Gefangene pro Zelle, ein Toiletteneimer in der Ecke, das waren die Zustände in der Anstalt mit 1500 Häftlingen. Die 150 Mörder hatten eine Art "Kapo"-Stellung inne und übten sie mit Gewalt und Willkür aus. Stifte und Papier waren verboten, wer sie doch besaß, wurde für 14 Tage allein in ein stockdunkles Verlies geworfen.

Eine Art stiller Widerstand, ein Verhalten wie das des cleveren "Soldaten Schwejk" und das Ausweichen in noch so kleine Freiräume hielten Görlach am Leben. Nicht zuletzt auch das Bewusstsein, nichts Falsches getan zu haben. Anwerbungsversuche seitens der Stasi lehnte Görlach stets ab: "Hätte ich da mitgemacht, hätte es mir moralisch das Rückgrat gebrochen." Nach drei Jahren wurde er von der Bundesrepublik freigekauft, kehrte zurück in sein altes Leben und sollte dort anknüpfen, wo er zuvor herausgerissen wurde.

Dass die Täter von damals heute Renten und Pensionen beziehen, sei unerträglich, aber die Konsequenz des Rechtsstaats. Ihre Verbrechen, etwa die des früheren DDR-Richters Hermann Wohlgethan, dürften allerdings nicht in Vergessenheit geraten. Im Schnellverfahren zum Richter gemacht, fällte der Richter mit dem Beinamen "der rote Freisler" zahlreiche Todesurteile und war auch für Görlachs Prozess verantwortlich.

Zu einer Verurteilung wegen Rechtsbeugung kam es wegen Wohlgethans hohem Alter nie, und quasi in letzter Minute konnte der Potsdamer Bürgermeister noch davon abgehalten werden, dem Richter zum 100. Geburtstag Glückwünsche zu schicken.

Daniel Schneegaß vom CDU-Stadtverband machte in dem Zusammenhang gerade in letzter Zeit eine Verharmlosung des "korrupten und menschenverachtenden Staatsapparats" aus. Der Sturz dieses Systems, so betonte CDU-Landtagsabgeordneter Georg Wacker, sei der Zivilcourage der Bürger zu verdanken. "Ihr Einsatz ist unvergessen", bemerkte auch Bundestagsabgeordneter Dr. Karl A. Lamers, weshalb Gedenkveranstaltungen wie die Kundgebung in Schriesheim so wichtig seien: "Dieser Tag ist ein Tag der Freude, auf den wir stolz sein können."

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Autor: Rhein-Neckar-Zeitung