Schriesheim im Bild 2023

29.12.2003

"Unser genialer Führer und Volkskanzler"

Aus dem Jahrbuch: Über das Leben und die Vertreibung der angesehenen jüdischen Familie Fuld

Der MGV Liederkranz im Jahre 1913. Julius Fuld steht in der dritten Reihe in dritter Position von rechts (mit zeitgenössischem Schnurrbart). Foto: Jahrbuch

Schriesheim. (ron) Der Besuch der einst aus Schriesheim vertriebenen Juden in diesem Jahr, hat Herzen geöffnet. Und neue Sichtweisen ermöglicht auf dieses dunkle Kapitel deutscher Geschichte. Speziell für die Aufarbeitung der Lokalgeschichte natürlich. Eine bemerkenswerte Arbeit ist Dr. Gerhard Merkel jetzt im neuen Jahrbuch gelungen: Das Leben der Familie Fuld steht für das eigentlich Unfassbare ihrer Vertreibung: Wie konnte es geschehen, dass eine der angesehensten Familien der Stadt plötzlich verstoßen wurde wie eine Gruppe von Aussätzigen?

Dr. Gerhard Merkel, Historiker und Oberstudiendirektor, gehört zu den regelmäßigen Autoren des Schriesheimer Jahrbuchs. Seine Arbeiten sind deshalb so interessant, weil er auf der einen Seite natürlich professionell wissenschaftlich vorgeht, auf der anderen Seite - als waschechter "Schriesemer" in einer gewissen gesellschaftlichen Position - seine Augen und Ohren immer offen hat für die passenden Gespräche und Hinweise aus der Bevölkerung. Merkel ist auch in einem für Zeitgeschichtler so praktischen Alter, dass er die Zeitzeugen des letzten Jahrhunderts zumeist persönlich kennt oder gekannt hat. Das alles ergibt ein Forschungsgemisch, das spannende, lebensnahe und ergiebige Geschichten hervorbringt.

Die Geschichte der jüdischen Familie Fuld in Schriesheim gipfelt in dem tragischen, ja grotesken Vorgang, dass sich Leopold Fuld als Schriftführer des Gesangvereines Liederkranz am 2. September 1933 quasi selbst aus der Vorstandschaft des gerade erst gleichgeschalteten Vereins entfernen muss. "Nun folgte die Gleichschaltung unseres Vereins nach dem Führerprinzip unseres Volkskanzlers Adolf Hitler...", so lautet es in dem Protokoll einer außerordentlichen Jahreshauptversammlung - es sollte Fulds letztes sein. Zum "Führer des Liederkranzes" wurde Philipp Krämer ernannt, als Beirat fungierte fortan unter anderem "unser Sangesbruder Theodor Riehl", der damalige Ortsgruppenleiter der NSDAP. Seinen eigenen Namen notiert der damals 33-jährige Leopold Fuld nicht mehr. Im Frühjahr 1938 floh er mit seiner Familie vor den Nazis aus seiner Heimat. Verwandte seiner Frau gaben ihm in Argentinien Zuflucht. Im Liederkranz-Jahresbericht von 1933 taucht der Name Leopold Fulds ebensowenig auf wie der seines Vaters Julius - obgleich er ihn noch persönlich verfasst hat. Im Frühjahr verlas "der neue Schriftführer Wendelin Morast die Vereinschronik, die sich als eine sehr reichhaltige ergab", so zitiert Merkel aus dem Protokollbuch des Vereins. Die Fulds waren einfach getilgt worden.

Merkel ist es in seinem Aufsatz gelungen, die Ohnmacht zu beschreiben, der gerade die Jahre lang hoch angesehenen Juden von heute auf morgen anheim fielen. Nichts galt mehr. Kein gesellschaftliche Position, kein Dienst im Ersten Weltkrieg, nicht einmal der glühende Nationalismus, den sich Leopold Fuld sogar noch einige Tage nach Hitlers Machtergreifung bewahrt hatte.

Begeistert schreibt Fuld nach dem 21. März 1933 von einem Fackelzug, bei dem er selbst mitmarschierte: "Zu Ehren dieses denkwürdigen Tages sammelten wir uns vereint mit allen bürgerlichen Vereinen, der SA und der SS (. . .) zu einem Fackelzug, wie er in den Mauern Schriesheims noch nie zuvor gesehen worden war. Vor dem Rathaus sangen wir ‚Gebet für das Vaterland', worauf unser Bürgermeister Fritz Urban durch tief empfundene herzliche Worte zum (...) Wiederaufbau unseres geliebten deutschen Vaterlandes mahnte". Dann schmetterte Leopold Fuld das Horst-Wessel-Lied und die deutsche Nationalhymne an der Seite der Männer, die ihn kurz darauf ächteten und schließlich vertrieben. Noch in einem Protokoll zum 1. Mai des gleichen Jahres beschreibt er Adolf Hitler als "unseren genialen Führer". Zwölf Jahre später wusste man, dass dieser Mann sechs Millionen Juden auf dem Gewissen hatte.

Womöglich wird man bald mehr erfahren, wie sich Leopold Fuld gefühlt hat, als die Stimmung kippte. Als er spürte, dass ihm sein ehrbares und heimattreues Leben nichts mehr nützte. Als er merkte, dass nur noch die Flucht das Leben seiner Familie retten konnte. Wie neulich schon berichtet, kehrt im Februar Margot Fuld in ihre alte Heimat zurück, die sie im Alter von acht Jahren an der Hand ihrer Eltern verlassen musste. Leopold Fulds Tochter lebt in Argentinien, und ihr Vater begann schon kurz nach Kriegsende, mit seinem alten Freund Karl Müller, einem Landwirt aus der Schriesheimer Bahnhofstraße, eine Brieffreundschaft fortzuführen. Fuld, dessen Familie schon seit vier Generationen in Schriesheim lebte und der Viehhändler war, schenkte seine letzte Kuh vor seiner Emigration dem Bauern Karl Müller. Karl Müllers Tochter Gretel (heute Gretel Metz) und Fulds Tochter Margot wurden im gleichen Jahr eingeschult. Dem zierlichen Mädchen mit den dunklen Augen und der Schultüte sieht man auf dem Foto den Kummer nicht an, den es bereits gefühlt haben muss, wenige Monate vor der Vertreibung. Im Februar werden sich die beiden Frauen wiedersehen und die Freundschaft ihrer Väter weiterpflegen.

Dr. Gerhard Merkel bemerkt eingangs seiner Schrift, dass er vor rund 25 Jahren schon mit Landwirt Karl Müller wegen seiner Brieffreundschaft zu Leopold Fuld in Kontakt war. Der Besuch der ehemaligen jüdischen Mitbürger in diesem Jahr habe, so der Autor, Anlass zur Rückbesinnung ergeben. Beim Besuch im Mai kam ausgerechnet kein Kontakt zu Margot Fuld zustande. Jetzt reist sie auf private Einladung der Familie Metz nach Schriesheim.

INFO: Das neue Schriesheimer Jahrbuch gibt es in Utes Bücherstube für zwölf Euro.

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Autor: Rhein-Neckar-Zeitung